Oktober 2012

121007

ENERGIE-CHRONIK


 


An einem der vier Reaktoren des belgischen Kernkraftwerks Doel wurden Tausende feiner Risse entdeckt – ein Befund, der bei den "Stresstests" der EU nicht auftauchte und auch nicht erfaßt werden konnte, weil sie auf dem Papier stattfanden und andere Kriterien prüften.
Foto: Wikipedia

EU will bis zu 25 Milliarden Euro für Nachbesserungen an Kernkraftwerken ausgeben

Bei fast allen Kernkraftwerken in der Europäischen Union sind Nachbesserungen erforderlich. Nirgends sind die Mängel jedoch so gravierend, daß eine Abschaltung erforderlich wäre. Zu diesem Ergebnis gelangt die EU-Kommission aufgrund der sogenannten "Stresstests", deren Durchführung sie nach der Katastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 beschloß (110503). In die Überprüfung einbezogen wurden insgesamt 145 Reaktoren an 63 Standorten in 15 EU-Mitgliedsstaaten. Dazu gehörten auch die seit März 2011 dauerhaft abgeschalteten acht Kernkraft-Blöcke in Deutschland (110501) und die seit Anfang 2010 stillgelegten beiden Reaktoren in Litauen (100102). Tatsächlich in Betrieb sind nach Brüsseler Angaben 132 Reaktoren in 14 der 27 Mitgliedsländer. Von den Nachbarländern beteiligten sich die Schweiz mit ihren vier Kernkraftwerken bzw. fünf Reaktorblöcken (110504) sowie die Ukraine mit den 15 Reaktorblöcken an vier Standorten, die ihr nach der kompletten Abschaltung von Tschernobyl (001215) verblieben sind.

"Generell ist die Situation zufriedenstellend", erklärte EU-Energiekommissar Günther Oettinger bei der Vorlage des Berichts am 4. Oktober. Trotzdem sei "um der Sicherheit unserer Bürger willen" eine europaweite Anhebung der sicherheitstechnischen Standards auf ein einheitlich hohes Niveau nötig. Die dadurch entstehenden Kosten, die in die Strompreise eingehen werden, veranschlagt der Bericht mit 10 bis 25 Milliarden Euro, wobei er sich auf Schätzungen der französischen Atombehörde stützt.

Anfang 2013 will die Kommission eine überarbeitete Fassung der derzeit geltenden Richtlinie über nukleare Sicherheit vorlegen. Außerdem will sie noch im selben Jahr zwei Vorschläge präsentieren: Der eine regelt Versicherung und Haftung im Nuklearbereich, der andere setzt Höchstwerte für die Radioaktivität in Nahrungs- und Futtermitteln.

"Stresstests" fanden auf dem Papier statt - konkrete technische Mängel wurden nicht erfaßt

Die sogenannten Stresstests stützten sich im wesentlichen auf Auskünfte der KKW-Betreiber und Einschätzungen der nationalen Sicherheitsbehörden. Diese Ergebnisse wurden von Fachleuten der Gruppe der europäischen Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) überprüft. Außerdem haben die ENSREG-Teams nach Brüsseler Darstellung ein gutes Drittel der Reaktoren "besucht" bzw. "besichtigt", was immer das heißen mag. In aller Regel wurde jedenfalls die Sicherheit der Anlagen anhand schriftlicher Unterlagen beurteilt.

So erklärt sich auch, weshalb beispielsweise die konkreten Sicherheitsmängel an den beiden belgischen Reaktoren Doel 3 und Tihange 2 nicht in dem Bericht auftauchen. An dem Reaktorbehälter von Doel 3 wurden bei der Revision im Juli dieses Jahres Tausende feiner Risse entdeckt. Ein ähnlicher Befund ergab sich im September an dem baugleichen Reaktor von Tihange 2. Beide Reaktoren blieben daraufhin vorläufig abgeschaltet. Da eine Reparatur praktisch unmöglich ist, muß die belgische Atombehörde FANC nun entscheiden, ob es bei der Stillegung bleibt oder ob trotz der konstatierten Mängel der Weiterbetrieb erlaubt wird. Bei Tihange 2, wo die Risse weniger zahlreich auftraten, hat die Behörde bereits eine vergleichsweise leichte "Störung" gemäß Stufe 1 der INES-Skala konstatiert. Zu Doel 3 gab sie bisher noch keine Einstufung bekannt – abgesehen von einem Defekt bei der Kühlwasserversorgung, der kurz vor Entdeckung der Risse festgestellt und in Stufe 1 der Ines-Skala eingeordnet worden war.

Um die Öffentlichkeit zu beruhigen, veröffentlichte die FANC im August eine "FAQ"-Liste. Unter anderem wurde darin die Frage aufgeworfen und beantwortet, weshalb die Mängel in Doel 3 nicht beim EU-Stresstest entdeckt worden seien. Die Antwort der Atombehörde lautete, daß mit den Stresstests lediglich geprüft worden sei, wieweit die Kernkraftwerke äußeren Einwirkungen wie in Fukushima widerstehen können. Dazu zählten Erdbeben, Überschwemmungen, Flugzeugabstürze oder der Verlust jeglicher Stromversorgung mit daraus resultierendem Versagen der Kühlung. Der EU-Stresstest habe somit in eine ganz andere Richtung gezielt, und die Gültigkeit seiner Ergebnisse werde durch die Mängel in Doel nicht in Frage gestellt.

Kommission will europaweit gültige Standards für die Beibehaltung und den weiteren Ausbau der Kernenergie

Nicht zuletzt dürften die EU-Stresstests dazu gedient haben, die Brüsseler Kompetenzen auf das Gebiet der nuklearen Sicherheit auszudehnen, wie das von der Kommission seit zehn Jahren gefordert wird (021103). Die Kommission läßt sich dabei nicht etwa von Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Kernenergie leiten, sondern will durch europaweit gültige Standards die Beibehaltung und den weiteren Ausbau dieser Stromquelle ermöglichen (110204). Eine diesbezügliche Richtlinie, die 2009 verabschiedet wurde (090603), ist in ihren Augen unzureichend. Sofort nach der Katastrophe von Fukushima hat sie deshalb den Staats- und Regierungschefs die "Stresstests" abgerungen und sich zugleich ermächtigen lassen, "alle erforderlichen Verbesserungen" der bisherigen Richtlinie vorzuschlagen. (110304)

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