Juni 2018

180601

ENERGIE-CHRONIK


Große Koalition beschließt Reststrommengen-Entschädigung für Vattenfall und RWE

Der Bundestag beschloß am 28. Juni den Gesetzentwurf zur Entschädigung der KKW-Betreiber Vattenfall und RWE, den die schwarz-rote Koalition im Mai vorgelegt und am 1. Juni ins Parlament eingebracht hat (180501). Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, das Atomgesetz gemäß seinem Urteil vom Dezember 2016 bis spätestens 30. Juni zu ändern (161201), wurde damit gerade noch rechtzeitig erfüllt. Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzesentwurf blieb praktisch unverändert, wurde nun aber als Antrag der Fraktionen von Union und SPD eingebracht und mit den Stimmen der Regierungskoalition verabschiedet. Bemerkenswert war dabei, dass auch FDP, Linke und Grüne die ab 2023 anfallenden Entschädigungszahlungen an die KKW-Betreiber für die einzig richtige Lösung hielten, obwohl die dadurch enstehenden Kosten von schätzungsweise mindestens einer Milliarde Euro leicht zu vermeiden gewesen wären, wenn man die drei letzten Kernkraftwerke, die am 31. 12. 2022 stillgelegt werden sollen, um knapp ein Vierteljahr länger hätte laufen lassen (siehe Hintergrund, Mai 2018). Die fünf Fraktionen der Alt-Parteien überließen es so der rechtspopulistischen AfD, auf die überaus fragwürdige "Kosten-Nutzung-Rechnung" hinzuweisen und sich als Anwalt des Steuerzahlers aufzuspielen. Trotz ihres engen Schulterschlusses mit den Regierungsparteien beim Festhalten an den falsch gesetzten Schlussterminen für die Reaktoren entdeckten FDP, Linke und Grüne dann aber doch jeweils mehr oder weniger überzeugende Gründe, weshalb sie das Gesetz ablehnen müssten.

FDP stößt sich an handwerklichen Mängeln des Gesetzes

Am elegantesten zog sich die FDP aus der Affäre, die gemeinsam mit der Union den gesetzgeberischen Pfusch zu verantworten hatte, den das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom Dezember 2016 beanstandete. Ihre Sprecherin Judith Skudelny verwies darauf, dass der vorliegende Gesetzentwurf in mehreren Punkten "handwerklich nicht gut ist". Beispielsweise bleibe unklar, wie die Entschädigungen zu berechnen seien und in welchem Umfang die KKW-Betreiber kooperieren müssen. Hier eröffne sich ein "Einfallstor für neue Streitigkeiten". Ihre Partei werde deshalb nicht zustimmen – "nicht weil die Intention falsch ist, sondern weil der Weg, der gewählt worden ist, nicht korrekt ist".

Linke stimmt wegen Höhe der Entschädigung nicht zu

Einen ziemlich schwache Figur machte dagegen die Linke, die 2011 als einzige Bundestagsfraktion die schwarz-gelbe Neufassung des Atomgesetzes abgelehnt hat und sich deshalb jetzt nicht vorhalten lassen muss, ein Gesetz mit gravierenden Rechtsfehlern mitgetragen zu haben (110601). Ihr Sprecher Hubertus Zdebel hielt es sogar für "alarmierend", dass in den Reihen der Regierungskoalition zeitweilig überhaupt daran gedacht worden sei, auch eine Revision der falsch gesetzten Schlusstermine in Erwägung zu ziehen. Hinter dieser Überlegung habe der Wirtschaftsflügel der Union gesteckt. Damit sei nichts weniger als der ganze Atomkonsens in Frage gestellt worden. "Es ist gut, dass es nicht so weit gekommen ist und eine andere Regelung gefunden wurde, um die Konzerne zu entschädigen". Allerdings sei die vorgesehene Entschädigung zu großzügig bemessen. Deshalb fordere die Linke einen "Gemeinwohlabschlag in Höhe von 10 bis 15 Prozent" und werde den Gesetzentwurf ablehnen.

Grüne wollen keine Übertragung auf Brokdorf und Emsland zulassen

Die Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, wollte ebenfalls nicht an den Schlussterminen rütteln lassen und vermißte einen "Gemeinwohlabschlag" an der vorgesehenen Entschädigung. Den grundlegenden Mechanismus der Reststrommengen-Regelung schien sie noch immer nicht ganz begriffen zu haben, denn sie fragte empört: "Was hat Brunsbüttel in diesem Gesetzentwurf zu suchen?" (Brunsbüttel wird zusammen mit Krümmel und Mülheim-Kärlich in § 7f der Neuregelung namentlich aufgeführt, weil es nun mal um die Reststrommengen dieser drei Reaktoren geht).

Insbesondere bedauerte Kotting-Uhl, dass es nicht gelungen sei, den vorliegenden Gesetzentwurf um eine Passage zu ergänzen, welche die Übertragung von Reststrommengen auf die Kernkraftwerke Brokdorf und Emsland untersagt. Der von diesen Reaktoren erzeugte Atomstrom verstopfe nämlich im Norden das Netz. Die dadurch bewirkte Abregelung von Windstrom gehe zu Lasten der "Steuerzahlerinnen und Steuerzahler", wie sie in politisch korrektem Gender-Neudeutsch, aber mit erstaunlich schiefer Logik feststellte. – Die dem Steuerzahler aufgebürdeten Entschädigungszahlungen würden nämlich mindestens um das Doppelte steigen, wenn Brokdorf und Emsland nicht in die Abarbeitung der Reststrommengen einbezogen werden. Um diesen tiefen Griff in die Staatskasse zu kompensieren, müßte dann in der Tat wieder die Brennelementesteuer eingeführt werden und dabei auch noch juristisch unangreifbar gemacht werden, wie das die Grünen-Sprecherin schon bei der ersten Lesung des Gesetzes gefordert hatte und nunmehr wiederholte.

SPD hält jegliche Korrektur der Schlusstermine für "unverantwortlich"

Als Sprecherin der SPD räumte die Abgeordnete Nina Scheer ein, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts schon mit einer partiellen Korrektur der Schlusstermine zu erfüllen gewesen wären. Das sei aber "unvereinbar mit unserem gesetzlich beschlossenen Atomausstieg", behauptete sie emphatisch, obwohl die Reststrommengen seit jeher das Grundgerüst des Atomausstiegs bildeten und das Bundesverfassungsgericht klargestellt hat, dass die später ziemlich willkürlich hinzugefügten Schlusstermine eine Entschädigungspflicht begründen, soweit sie die Abarbeitung der Reststrommengen behindern (siehe Hintergrund, Dezember 2016). Sie wisse zwar, "dass einige hier im Hause anderer Meinung sind". Denen wolle sie nochmals deutlich machen: "Das ist der richtige Weg. Alles andere, was in Richtung Laufzeitverlängerung geht, ist unverantwortlich."

Ähnlich wie Kotting-Uhl bedauerte Scheer, dass es nicht gelungen sei, die Übertragung von Reststrommengen auf die Reaktoren Brokdorf und Emsland zu verhindern, die gemäß Atomgesetz erst Ende 2021 bzw. Ende 2022 stillgelegt werden. "Das wäre natürlich entschädigungspflichtig gewesen", gab sie zu. "Aber wir haben uns dafür eingesetzt, weil wir auf keinen Fall wollen, dass die gesetzliche Vorrangigkeit der erneuerbaren Energien, die wir in Deutschland und europaweit haben, dadurch determiniert wird, dass man auf einmal verstopfte Netze durch Atomstrom hat". Außerdem habe ihre Fraktion "es für wichtig und richtig gehalten, Brunsbüttel konsequent nicht in den Gesetzentwurf aufzunehmen". Aber damit habe sich die SPD leider nicht durchsetzen können. Im übrigen blieb auch bei Scheers Ausführungen rätselhaft, weshalb für den vor elf Jahren abgeschalteten Reaktor Brunsbüttel mit der kleinsten der drei in Frage stehenden Reststrommengen eine besondere Regelung eingeführt werden sollte.

Union will "Vertrauen der Bevölkerung nicht enttäuschen"

Für die Unionsfraktion begründete der Abgeordnete Karsten Möhring, weshalb man an den falsch gesetzten Schlussterminen festhalten will, anstatt die Laufzeiten der letzten Reaktoren geringfügig zu verlängern und damit dem Steuerzahler eine zehnstellige Summe zu ersparen. Im Unterschied zu SPD, Grünen und Linken mystifizierte Möhring die Schlusstermine nicht zu angeblich tragenden Säulen des Atomausstiegs, sondern ließ dezent anklingen, dass es nun mal genau solche irreführenden Vorstellungen sind, die Politiker in ihrem Kalkül berücksichtigen müssen, um nicht möglicherweise durch Entzug der Wählergunst bestraft zu werden: "Wir haben das aber nicht getan, und zwar deshalb nicht, weil wir dieses ständige 'Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln' nicht machen wollten und weil wir das Vertrauen der Bevölkerung in die Entscheidung, dass es nun einmal so ist und nicht mehr geändert wird, nicht enttäuschen wollten."

Übertragungsverbot für Brokdorf und Emsland wäre verfassungsrechtlich problematisch und würde die Kosten verdoppeln

Dem von SPD und Grünen verlangten Verbot einer Übertragung von Reststrommengen auf die Kernkraftwerke Brokdorf und Emsland hielt Möhring entgegen: "Wenn wir ein solches Verbot aussprechen würden, dann hätten wir ein verfassungsrechtliches Problem, weil das nicht mehr durch einen Ausgleich für die Benachteiligung gedeckt wäre, und wir hätten ein finanzielles Problem, weil eine solche Form der Benachteiligung de facto eine Art von Enteignung wäre, die dazu führte, dass wir den vollen Wertersatz ausgleichen müssten. Das würde annähernd eine Verdoppelung der Kosten bedeuten, die wir jetzt schon durch dieses Gesetz in Kauf nehmen." – Diese Rechnung stamme übrigens nicht von ihm, fügte er hinzu, als der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs per Zwischenruf Zweifel anmeldete. Er stütze sich bei dieser Kostenschätzung vielmehr auf die Expertise des SPD-geführten Umweltministeriums ...

Möhring stellte ferner klar, dass die von SPD und Grünen aus irgendwelchen Gründen gewünschte Ausklammerung der Reststrommenge für Brunsbüttel mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar wäre: "Die Antwort ergibt sich aus der Tatsache, dass nicht die Laufzeit in Jahren für ein Kraftwerk, sondern die zugesagte verstrombare Menge dieser Entscheidung zugrunde gelegt wird. Die verstrombare Menge war für Brunsbüttel noch nicht ausgeschöpft. Deswegen muss auch für Brunsbüttel ein Ausgleich infrage kommen."

AfD konnte sich als Beschützerin von Energiekonzernen und Steuerzahlern aufspielen

Die erste Lesung des Gesetzentwurfs hatte am am 8. Juni stattgefunden, wobei in der Debatte alle Parteien mit Ausnahme der AfD ihre grundsätzliche Zustimmung bekundeten. So blieb es dem AfD-Redner Rainer Kraft vorbehalten, als einziger für jene Lösung zu plädieren, die zumindest aus Sicht des Steuerzahlers die vernünftigste wäre und auch den endgültigen Atomausstieg nur um ein paar Wochen verzögern würde. Zugleich diskreditierte der AfD-Sprecher aber diese Lösung, indem er sie in eine polemische und stellenweise geradezu peinliche Rede einbettete (zum Glück war die Redezeit auf jeweils sechs Minuten beschränkt). Den anderen Parteien dürfte dies nicht unwillkommen gewesen sein, zumal sich die Rechtspartei auch noch als Beschützer der Energiekonzerne aufspielte, die "über Dekaden das Rückgrat der Stromversorgung in unserem Land gestellt haben und am wirtschaftlichen Aufstieg maßgeblich beteiligt waren". Als Dank dürften sich die Konzerne"zum Schaden nun auch den Spott abholen". Der vorliegende Gesetzentwurf mute ihnen"komplizierte und unzureichende Entschädigungsverklausulierungen" zu. Auch deshalb sei es besser, ihnen die komplette Abarbeitung und Vermarktung der Reststrommengen zu ermöglichen, meinte der AfD-Sprecher.

Nach der Einmütigkeit bei der ersten Lesung, die auch bei der abschließenden Beratung grundsätzlich anhielt, hat es etwas überrascht, dass sowohl Linke und Grüne als auch die FDP dem Gesetz am späten Abend des 28. Juni nicht nur ihre Zustimmung verweigerten, sondern es explizit ablehnten. Anscheinend sind ihnen bei den mittlerweile stattgefundenen Beratungen und Anhörungen doch Zweifel gekommen, ob es wirklich klug ist, die falsch gesetzten und bestenfalls überflüssigen Schlusstermine im Atomgesetz zu einem Fetisch zu machen, an dem angeblich der Atomausstieg hängt. So können sie jetzt auf ihre Ablehnung verweisen, falls es über kurz oder lang zu einer nüchterneren Betrachtungsweise kommt.

 

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