Juni 2014 |
140616 |
ENERGIE-CHRONIK |
Beim Atomversuchsreaktor Jülich (AVR), mit dem 15 kommunale Stromversorger unter wissenschaftlicher Begleitung des Atomforschungszentrums Jülich von 1967 bis 1988 die Tauglichkeit des Hochtemperatur-Reaktors (HTR) zur Stromerzeugung erprobten, kam es im Mai 1978 zu einem gravierenden Störfall, der von der Betreibergesellschaft verharmlost wurde. Das Bedienungspersonal setzte dabei eigenmächtig die Sicherheitsabschaltung des Reaktors außer Kraft, weil es anscheinend auf die konstruktionsbedingt höhere Sicherheit des HTR gegenüber dem Leichtwasserreaktor vertraute. Dies ergibt sich aus dem Abschlußbericht einer Expertengruppe, die vom Forschungszentrum Jülich und der AVR GmbH mit der Aufarbeitung verschiedener technischer Fragestellungen im Zusammenhang mit dem AVR beauftragt worden war.
Der Störfall an sich war bekannt. Es handelte sich um einen Schaden am Dampferzeuger, durch den Mitte Mai 1978 insgesamt etwa 27 Kubikmeter Wasser in den heliumgekühlten Primärkreislauf flossen. Wie jetzt aus dem Bericht hevorgeht, war es schon im Februar 1978 zu drei kleineren Wassereinbrüchen gekommen, bei denen aber nur wenige Liter in den Primärkreis gelangten. Der AVR habe über eine Sicherheitsschaltung verfügt, die beim Warnsignal "Kühlgasfeuchte zu hoch" eine Schnellabschaltung auslösen sollte. Um die kleineren Wassereinbrüche zu beseitigen, habe die Betriebsmannschaft die Feuchtemessung so umgestellt, daß der Schutzmechanismus unwirksam wurde und der Reaktor wieder angefahren werden konnte. Bei einer Gastemperatur von 500 Grad konnte so tatsächlich die Feuchte ausgeheizt und in der Gasreinigungsanlage abgeschieden werden.
Bei dem folgenden Wassereinbruch Mitte Mai 1978, der mehr als tausendmal größer war, blieb die Ursache der hohen Kühlgasfeuchte zunächst ebenfalls unbekannt. Die Bedienungsmannschaft verhielt sich aber genauso und verstellte den Meßbereich einfach noch weiter, um nach vermeintlich bewährtem Muster die Feuchte auszutrocknen und eine Schnellabschaltung zu vermeiden. Erst sechs Tage nach Störfallbeginn – nachdem alle Trocknungsversuche erfolglos geblieben waren – wurde der Reaktor abgefahren. Erst danach wurde auch das Leck am Dampferzeuger festgestellt.
Durch den Dampferzeugerstörfall kam es zu erhöhten Konzentrationen radioaktiver Stoffe innerhalb der Anlage und zu erhöhten Ableitungen von Tritium in die Umgebungsluft. Bei ihrer Meldung an die Aufsichtsbehörde ordnete die AVR GmbH die Störung in die niedrigste Meldekategorie N ("geringe sicherheitstechnische Bedeutung") ein. Nach Ansicht der Expertengruppe hätte die Einstufung in die Kategorie B ("sicherheitstechnisch potenziell signifikanten Störfall") oder sogar die höchste Kategorie A ("sicherheitstechnisch unmittelbar signifikanter Störfall") erfolgen müssen. Die von der AVR GmbH vorgenommene Einstufung wurde auch von der Aufsichtsbehörde nicht korrigiert.
Die thermische Leistung des AVR Jülich betrug 45 Megawatt und die elektrische Leistung 15 Megawatt. Im Unterschied zum vorherrschenden Typ des Leichtwasserreaktors verwendete er Helium als Kühlmittel, Uran-235 und Thorium-232 als Brennstoffe und Graphit als Moderator. Bei dem in Deutschland entwickelten Hochtemperaturreaktor waren die Brennelemente kugelförmig angeordnet, weshalb er auch als Kugelhaufen-Reaktor bezeichnet wurde. Auf demselben Konstruktionsprinzip wie der AVR Jülich basierte der zwanzigmal leistungsstärkere THTR-300 in Hamm, der allerdings nur von Juni 1987 bis September 1988 im kommerziellen Betrieb war und 1989 endgültig stillgelegt wurde (siehe Buchbesprechung).
Das HTR-Konzept hatte es damals vor allem kommunalen Versorgern angetan, weil es auch für kleinere Leistungen wirtschaftlich zu sein schien. Ein weiterer Vorteil war, daß die mit dem Kugelhaufen-Reaktor erzeugten hohen Temperaturen nicht nur zur Stromerzeugung, sondern auch zur Bereitstellung von Prozeßwärme und zur Kohleveredlung dienen konnten. Hinter dem AVR Jülich standen deshalb 15 kommunale Stromversorger unter Führung der Stadtwerke Düsseldorf, während der THTR-300 in Hamm ein gemeinsames Projekt der "Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen" (VEW) mit diversen kommunalen Versorgern war. Bis in die achtziger Jahre galt der HTR neben dem "Schnellen Brüter" als aussichtsreichste Alternative zum dominierenden Leichtwasserreaktor. Wie es in dem Bericht der Expertenkommission heißt, entwickelte sich bereits in den sechziger Jahren zwischen beiden Alternativ-Konzepten ein Konkurrenzkampf, der zugleich ein Konkurrenzkampf zwischen den damaligen Atomforschungszentren Jülich und Karlsruhe war.
Die beiden Hochtemperaturreaktoren in Jülich und Hamm gehören heute zu den 16 ehemaligen KKW-Standorten, für die das Stillegungs-Verfahren läuft (140501). Für den AVR war zunächst nur der "sichere Einschluß" vorgesehen. Das änderte sich mit der Übernahme der kommunalen AVR GmbH unter das Dach der bundeseigenen Energiewerke Nord (EWN) im Mai 2003. Eine Verwaltungsvereinbarung zwischen dem Bund und dem Land Nordrhein-Westfalen sieht nun vor, den Rückbau bis zur "grünen Wiese" durchzuführen. Allerdings wurde schon 1999 im Boden und im Grundwasser unter dem Reaktor eine radioaktive Belastung festgestellt, die vermutlich auf Leckagen beim Umpumpen von hoch kontaminiertem Wasser nach dem Dampferzeugerstörfall 1978 zurückzuführen ist. "Durch die Kontamination mit dem schwer meßbaren Strontium-90 ist der Aufwand zur Freigabe des Geländes, die eventuell auch die Entfernung eines Teils des Bodens erfordert, deutlich größer als bei anderen Stilllegungsprojekten von Kernkraftwerken in Deutschland", heißt es im Bericht der Expertenkommission.
Das Forschungszentrum Jülich – das bis 1990 als Atomforschungszentrum firmierte und dem benachbarten AVR eng verbunden war – dankte der Expertengruppe in einer offiziellen Stellungnahme für ihre "engagierte und sachkundige Aufarbeitung der AVR-Betriebsgeschichte". Sie habe bestätigen können, daß Menschen und Umwelt durch den Betrieb des AVR keiner radiologischen Gefahr ausgesetzt gewesen seien. Ihr Bericht zeige jedoch, daß es in der Vergangenheit gravierende Fehler und Versäumnisse gegeben habe, "auch auf Seiten des Forschungszentrums". Dies bedauere man ausdrücklich.