Juli 1991

910701

ENERGIE-CHRONIK


Besorgnis wegen bulgarischem KKW - EG zahlt für Ost-Reaktoren

Mit ihrer Forderung nach Abschaltung des bulgarischen Kernkraftwerks Kosloduj hat die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) die Aufmerksamkeit erneut auf die Sicherheitsmängel der Reaktoren sowjetischer Bauart gelenkt und ein Sonderprogramm der EG zur sicherheitstechnischen Nachrüstung solcher Reaktoren ausgelöst. Die IAEO konstatierte in Kosloduj zahlreiche Sicherheitsmängel, die inzwischen durch einen Brand und Austritte von Radioaktivität bestätigt wurden. Die bulgarische Regierung betonte demgegenüber, daß die Stromversorgung des Landes ohne Kosloduj zusammenbrechen würde. Erst nach Hilfszusagen der EG, der Bundesregierung und der Weltvereinigung der Betreiber von Kernkraftwerken (Wano) erklärte sie sich zur sukzessiven Stillegung der beiden gefährlichsten Blöcke bis 15. September bereit. Am 31. Juli wurden in Brüssel 23 Mio. DM für die dringendsten Sicherheitsvorkehrungen in Kosloduj freigegeben. Weitere 30 Milllionen DM sollen für die Überholung mehrere Kernkraftwerke sowjetischer Bauart in der Sowjetunion und anderen Ländern Mittel- und Osteuropas aufgebracht werden. Der bulgarische Finanzminister begrüßte die EG-Hilfe prinzipiell, bezeichnete sie aber als zu gering. Eine völlig Renovierung von Kosloduj, die Bulgarien nicht aus eigener Kraft zu leisten vermöge, werde rund 500 Mio. DM kosten (SZ, 10.7.; FR, 11. u. 26.7.; dpa, 31.7.).

Das Stromdefizit, das bei völliger Stillegung der sechs Blöcke von Kosloduj entstände, läßt sich wegen der beschränkten Übertragungskapazitäten zwischen dem west- und osteuropäischen Verbundnetz nicht durch westliche Ersatzlieferungen ausgleichen. Die weniger maroden Blöcke der Anlage sollen deshalb mit Teilen des stillgelegten KKW Greifswald nachgerüstet werden, das bei gleicher Bauart höheren Sicherheitsansprüchen genügte. Kritiker meinen allerdings, daß damit nur "Schrott zu Schrott" gebracht und keine befriedigende Erhöhung des Sicherheitsstandards in Kosloduj erreicht werde (Spiegel, 15.7.).

Die IAEO beanstandete, daß das Notkühlsystem in Kosloduj selbst bei einfachen Störfällen nur notdürftig schütze. Ferner monierte sie zahlreiche Leckagen, defekte Anzeigen und Leitungen sowie mangelnde Sachkenntnis des Bedienungspersonals. In Kosloduj werde mehr auf die Produktion als auf die Sicherheit geachtet. Die Brandgefahr sei groß. Kurz nach Bekanntwerden dieser Kritik brach am 15. Juli in dem bulgarischen KKW tatsächlich ein Brand aus, der nach rund drei Stunden von der Werksfeuerwehr gelöscht wurde. Am 1., 2. und 22. Juli gab es weitere Störfälle, bei denen Radioaktivität frei wurde. Bei einem der "hot spots" lag die radioaktive Strahlung um das 20fache über der zulässigen Grenze (Handelsblatt, 5.7.; FR, 19.,7., 26.7. u. 27.7.).

Das Urteil der Medien über den "Schrott-Meiler" (FR, 19.7.) bzw. die "Atom-Bruchbude" (NRZ, 23.7.) ist eindeutig. Die Kritik der IAEO wird als eher noch zu mild gewertet. Es besteht Einigkeit darüber, daß "rasche Hilfe nötig" und eine "Schadensbegrenzung" (Handelsblatt, 11.7.) erforderlich sind. In Illustriertenberichten ist von der "Zeitbombe Atomkraftwerk" und dem "Alptraum Atomenergie" die Rede (Quick, 18.7.). Teilweise werden apokalyptische Visionen entworfen: "Die große Katastrophe kann jeden Augenblick eintreten! Dann wird es schlimmer als Tschernobyl: Radioaktive Strahlen verseuchen ganz Europa! Was geschieht, wenn diese ´Atombombe´ explodiert? Wenn eine Todeswolke über Deutschland zieht?" (Neue Revue, 2.8.).

Durch Kosloduj wurde zugleich die Aufmerksamkeit auf die grundsätzlichen, seit Tschernobyl offenkundigen Mängel im Sicherheitsstandard der östlichen KKW gelenkt. Nach einer Studie des sowjetischen Staatskomitees zur Überwachung der atomaren Sicherheit ist bei den Reaktoren der sowjetischen Baureihe WWER-440, wie sie sich in Kosloduj befinden, die Wahrscheinlichkeit einer Kernschmelze fast 200mal größer als bei westlichen Reaktoren. Es wird davon ausgegangen, daß sie bei diesem Reaktortyp "ein Mal in 180 Reaktorbetriebsjahren" auftritt. Diese Betriebszeit wird aber von der bisherigen Laufzeit aller Reaktoren dieses Typs zusammengenommen fast erreicht. Die KKW sowjetischer Bauart entsprechen insgesamt - nach dem Urteil der IAEO - nicht den heutigen Sicherheitsanforderungen. Hinzu komme bisher eine Betriebsweise, bei der die Produktion den Vorrang vor Sicherheit habe (FR, 16.7.; dpa, 11.7.).