März 1992 |
920301 |
ENERGIE-CHRONIK |
Im russischen Kernkraftwerk Sosnowy Bor bei St. Petersburg sind am 24.3. nach einem Rohrbruch im Kühlsystem radioaktive Gase ausgetreten. Der Störfall wurde von den russischen Behörden auf der von null bis sieben reichenden Sicherheitsskala der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) zunächst unter drei, dann unter zwei eingestuft. Der dritte Reaktorblock des Kernkraftwerks wurde nach dem Störfall abgeschaltet. Die Anlage umfaßt insgesamt vier graphitmoderierte Reaktoren vom Tschernobyl-Typ "RBMK" mit einer Leistung von je 1000 MW, die zwischen 1973 und 1981 in Betrieb genommen wurden. Die Strahlenschutzbehörden der benachbarten Länder stellten - mit geringfügigen Ausnahmen in Finnland - keine erhöhten radioaktiven Werte fest (Welt, 25.3.; FR, 25.3.; FAZ, 25.3.; SZ, 25.3.).
Der Störfall hat in der Öffentlichkeit erneut Erinnerungen an die Katastrophe von Tschernobyl wachgerufen. Es wurden verstärkt Forderungen nach Abschalten bzw. nach sicherheitstechnischer Nachrüstung der osteuropäischen Reaktoren laut. Bundesumweltminister Töpfer bekräftigte seine Meinung, daß alle Kernkraftwerke vom Typ Tschernobyl so schnell wie möglich abgeschaltet werden müssen. Bundeskanzler Kohl sah sich in seiner Absicht bestätigt, auf dem Weltwirtschaftsgipfel im Juli in München die Regierungs- und Staatschefs für ein internationales Hilfsprogramm zur Energieversorgung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu gewinnen. Der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Harald Schäfer, forderte eine langfristige Zusammenarbeit auf der Basis der Europäischen Energie-Charta mit dem Ziel, die 63 osteuropäischen Kernkraftwerke mit insgesamt etwa 50 000 Megawatt abzuschalten. Der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, Friedhelm Ost (CDU), verlangte dagegen, die Kernkraftwerke im Osten durch Nachrüstung mit westlicher Hilfe sicherer zu machen (FAZ, 25.3. u. 26.3.; FR, 27.3.;).
Der Spiegel (30.3.) nahm den Störfall zum Anlaß einer Titelgeschichte über "Die programmierte Katastrophe - Atom-Gefahr aus dem Osten", in deren einleitenden Zeilen es heißt: "Der Störfall von Sosnowy Bor verlief glimpflich, aber die nächste Katastrophe in einem Sowjet-Reaktor ist programmiert: Die Konstruktionsmängel sind nicht zu beheben, Kontrollmannschaften laufen auseinander, Ersatzteile fehlen. Gegen eine Abkehr vom Nuklearkurs steht die Atom-Mafia in Ost und West."
Nach überwiegender Meinung der Kommentatoren wäre jedoch ein Abschalten aller osteuropäischen Kernkraftwerke ebensowenig realisierbar wie ein genereller Ausstieg aus der Kernenergie in den westlichen Industriestaaten. Die Süddeutsche Zeitung (26.3.) gab in einem Kommentar mit der Überschrift "Abschalten ist keine Lösung" folgendes zu bedenken: "Es kann vernünftig sein, in der Atomenergie nicht die Lösung des Energieproblems für alle Zukunft zu sehen. Solange jedoch der Unterschied zwischen arm und reich auf der Welt so groß ist wie jetzt werden starke Industrienationen beim Ausstieg aus der Atomwirtschaft allein bleiben und andere Länder nicht hindern können, riskantere Wege der Energiegewinnung zu gehen. Die Industrienationen, auch die Deutschen, können nur mit der Technik helfen, die sie haben und weiterentwickeln. Das müssen sie nicht zuletzt im eigenen Interesse tun."
Die Frankfurter Allgemeine (25.3.) gelangte hinsichtlich der östlichen Reaktoren zu ähnlichen Überlegungen : "Insgesamt sind es rund sechzig. Da man sie nicht einfach abschalten kann, muß nachgerüstet werden. Eine solche Nothilfe ist unerläßlich, selbst wenn sie die Gefahren nur verringert. Diese Einsicht ist nicht neu, der jüngste Zwischenfall hat aber die Dringlichkeit solcher Maßnahmen belegt."
Im Handelsblatt (25.3.) hieß es: "Alle kernkraftwerksbetreibenden Länder der Welt müssen sich aber im klaren darüber sein, daß ein erneuter Unfall wie in Tschernobyl die Akzeptanzkrise bei der Nutzung der Kernenergie dann als globale Hürde unüberwindlich machen würde. ... Die kerntechnischen Zeitbomben im Osten müssen durch Stillegungen und Nachbesserungen jetzt rasch entschärft werden. Die Stromtransportmöglichkeiten in Richtung Osteuropa sind durch unbürokratische Genehmigungen zu fördern. Die Hilfen dürfen nicht an finanziellen Engpässen scheitern. Dazu sind die Risiken viel zu groß."
Die Frankfurter Rundschau (26.3.) kritisierte die nachträgliche Rückstufung des Störfalls durch die russischen Behörden: "Die gefürchtete Kernschmelze trat zwar zum Glück nicht ein, aber daß sie über diesen ëUnfallpfadí eintreten kann, scheint außer Zweifel. Daß das russische Atom-Ministerium trotzdem darauf beharrt, der Störfall sei nur ein Zwischenfall gewesen, und die eigene Einstufung auf der Wiener Skala revidiert, stärkt nicht gerade das Vertrauen in die Atom-Glasnost."