November 1994 |
941104 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die geplante Einlagerung von abgebrannten Brennelementen aus dem Kernkraftwerk Philippsburg im Zwischenlager Gorleben konnte auch im November nicht stattfinden. Kurz vor dem geplanten Transport der "Castor"-Behälter wurde die vom Bundesumweltministerium erteilte Weisung an die niedersächsische Landesregierung durch einen Gerichtsentscheid wieder aufgehoben. Zuvor kam es zu massiven, teilweise gewalttätigen Protestaktionen von Kernkraftgegnern (siehe 941012).
Die niedersächsische Landesregierung hatte zunächst versucht, die Ausführung der von Bundesumweltminister Töpfer (CDU) erteilten Weisung zur Genehmigung des Transports erneut mit Auflagen zu verbinden. So sollte der Betreiber des Zwischenlagers verbindlich erklären, daß von der Einlagerung der Brennstäbe keine gesundheitliche Gefährdung ausgehe. Sie mußte sich aber am Ende darauf beschränken, diese Forderungen nur noch in einem Begleitbrief zu erheben. Die eigentliche Zustimmung, die am 14.11. erteilt wurde, enthielt keine Bedingungen mehr (DPA, 10.11.; FR, 15.11.).
Schon am 5.11. blockierten über tausend Demonstranten die Hauptzufahrtswege nach Gorleben, um gegen die bevorstehende Einlagerung zu protestieren. Am 10.11. versperrten Gegner der Kernenergie zeitweilig erneut zahlreiche Zufahrtstraßen sowie eine Bahnlinie in Richtung Gorleben. Kurz vor der Genehmigung des Transports durch die Landesregierung kam es am 14.11. zu mehreren Anschlägen auf den Zugverkehr rund um Hannover: Unbekannte Täter warfen U-förmig gebogene Eisen über die Oberleitungen, so daß sich die Stromabnehmer der Lokomotiven in den Hindernissen verfingen und die Leitung an mehreren Stellen herunterrissen. Infolge der Anschläge hatten 78 Züge zum Teil stundenlange Verspätungen. Zu den Anschlägen bekannte sich ein anonymes "K.Ollektiv Gorleben". Am 17.11. blockierten Unbekannte eine Brücke bei Dannenberg mit Autoreifen und zwei gefüllten Benzinkanistern. Zwei Autofahrer rammten das Hindernis, wurden aber nicht verletzt. In Hannover demonstrierten Eltern mit ihren Kindern vor der Staatskanzlei gegen den Transport. Am 19.11. blockierten mehr als tausend Kernkraftgegner trotz eines Demonstrationsverbots mit einer "Streckenbegehung" die Bahnstrecken von Dannenberg nach Uelzen und Lüneburg. Am folgenden Tag brachten Demonstranten einen Zug durch Ziehen der Notbremse mehrere Male zum Stehen und blockierten das Gleis mit Baumstämmen. Insgesamt mußte die Polizei an diesem Wochenende 23 Barrikaden aus Strohballen, Baumstämmen, Wellblechen und Kilometersteinen von den Gleisen entfernen. Vor dem Kernkraftwerk Philippsburg demonstrierten am 20.11. ebenfalls etwa 120 Menschen (FR, 7.11.; FR, 11.11.; SZ, 15.11.; taz, 21.11.).
Die Durchführung des Transports wurde inzwischen ab dem 22.11. erwartet. Ein großes Polizeiaufgebot war für die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit Demonstranten bereitgestellt. SPD und Bündnis 90/Grüne appellierten an Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU), die Weisung ihres Vorgängers Klaus Töpfer zumindest auszusetzen. Andernfalls - so der umweltpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Müller - würden die Weichen "auf Konfrontationskurs mit der Umweltpolitik gestellt". Das Umweltministerium wies diese Forderung zurück (Handelsblatt, 22.11.; FR, 22.11.).
Am Abend des 21.11. wurde die Weisung des Bundesumweltministers an die niedersächsische Landesregierung zur Genehmigung des Transports durch eine vorläufige Entscheidung des Verwaltungsgerichts Lüneburg aufgehoben. Das Gericht ordnete die aufschiebende Wirkung einer Anfechtungsklage an, mit der sich im April zwei Bewohner aus dem Raum Gorleben gegen die "Castor"-Einlagerung gewandt hatten. In der 25 Seiten umfassenden Begründung des Beschlusses, die am 25.11. nachgereicht wurde, beanstandete das Gericht generell die 1988 erteilte Genehmigung für die Einlagerung von "Castor"-Behältern, weil sie Pannen, wie sie bei der Beladung des Behälters in Philippsburg aufgetreten seien, nicht berücksichtige. Dies sei ein "gravierendes Regelungsdefizit", da dadurch die Einlagerung eines Behälters in Gorleben möglich werde, der nicht den verbindlichen Handhabungs- und Prüfrichtlinien entsprechend beladen worden sei. Bundesumweltministerin Angela Merkel ließ gegen die ergangene Entscheidung Beschwerde einlegen, mit der sich nun das Oberverwaltungsgericht Lüneburg befassen muß (FAZ, 23.11.; DPA, 25.11.).
"Nach Wyhl, Brokdorf und Wackersdorf ist nun Gorleben zum Symbol des Widerstands gegen die Kernkraftnutzung geworden", konstatierte das Handelsblatt (25.11.). Nach Ansicht der Frankfurter Allgemeinen (23.11.) muß die neue Bundesumweltministerin diese "Feuerprobe" bestehen, um ihre Position für die bevorstehenden Konsensgespräche zu wahren: "Gibt die Bundesministerin jetzt nach, geht sie als Schwächling in die Gespräche."
Dagegen gab die Süddeutsche Zeitung (23.11.)
zu bedenken: "Der Versuch, den Castor auf Biegen und Brechen nach Gorleben
zu schaffen, ist eine Vergeudung von Energie. ... Dringender stellt sich
die Frage nach dem Ausstieg aus der teuren und gefährlichen Wiederaufarbeitung
des Atommülls im Ausland, der konsequenterweise den Einstieg in deutsche
Zwischenlager bedeuten müßte. Ein reibungsloser Umstieg ist
aber nur möglich, wenn Konsens herrscht über die Endlichkeit
derAtomproduktion."