April 1995

950401

ENERGIE-CHRONIK


Anschläge auf Hauptstrecken der Bahn begleiten Castor-Transport nach Gorleben

Der Castor-Behälter mit abgebrannten Brennelelemten, der seit 19. Juli vorigen Jahres versandfertig auf dem Gelände des Kernkraftwerks Philippsburg stand, ist am 25.4. endgültig in das Zwischenlager Gorleben gebracht worden. Entlang der letzten Etappe vom Bahnhof Dannenberg hatten sich rund 3000 Demonstranten versammelt, die den Transport teilweise gewaltsam zu stoppen versuchten. Die Polizei mußte Wasserwerfer und teilweise Schlagstöcke einsetzen, um den Weg freizumachen.

Vor und während des Bahntransports kam es erneut zu Anschlägen auf den Zugverkehr und anderen Sabotageakten. Wie schon im November und Januar verwendeten die Täter Wurfanker, in denen sich die Stromabnehmer der Lokomotiven verfingen, so daß die Oberleitungen teilweise auf mehrere Kilometer Länge heruntergerissen wurden. Betroffen waren die Hauptstrecken Hamburg - Bremen, Frankfurt - Heidelberg, Mannheim - Heidelberg und Mannheim - Mainz sowie die Strecke Buchholz - Maschen südlich von Hamburg. Tausende von Pendlern und anderen Reisenden erreichten deshalb ihr Ziel nur mit stundenlangen Verspätungen. Auf der Bahnstrecke Uelzen - Dannenberg wurden Bahnschwellen untergraben und Schienen durchsägt. Auf verschiedenen Straßen des Wendlands wurden Strohballen und Autoreifen angezündet (FAZ, 25.4.; SZ, 26.4.; siehe auch 950207).

"Gewalt lenkt von der notwendigen energiepolitischen Debatte ab"

Die Anschläge auf den Zugverkehr wurden in den Medien einhellig verurteilt. Für das Handelsblatt (25.4.) stellen sie den Rechtsstaat in Frage: "Gewalttätigen Aktionen zur Durchsetzung politischer Ziele ist mit allen verfügbaren polizeilichen und rechtlichen Mitteln Einhalt zu gebieten."

Die Frankfurter Allgemeine (24.4.) wunderte sich über die Gelassenheit, mit der die Anschläge in der Öffentlichkeit aufgenommen wurden: "Offenbar hat die Empfindlichkeit dafür abgenommen, daß vom Staat, dessen Organe aufgrund demokratischer Legitimation handeln, genehmigte Vorgänge unter den Druck privater Gewalt, noch dazu einer Minderheit, gesetzt werden."

Für die Süddeutsche Zeitung (25.4.) ist ein wichtiger Aspekt der Anschläge, daß sie von der eigentlichen Auseinandersetzung ablenken: "Gewalt verunglimpft ernstzunehmenden Protest. Sie verwandelt eine wichtige energiepolitische Debatte in eine Diskussion über innere Sicherheit. Und in dieser Diskussion steht von vornherein fest, wer Recht hat. Wenn es nur noch darum geht, Anschläge zu verfolgen, bleibt die Energiepolitik auf der Strecke."

Ähnlich argumentierte auch die tageszeitung (25.4.), die aus ihren Sympathien für die Kernkraftgegner keinen Hehl macht: "Wenn jedoch der Berufsverkehr im Rhein-Main-Gebiet eine Stunde lahmliegt oder wie vor zwei Wochen nachts auf freier Strecke ein Stück Schiene herausgesägt wird, kann die Stimmung in der Bevölkerung zur Atomenergie kippen - gegen die Anti-Atom-Bewegung nämlich. Ob die Aktionisten gute Argumente haben, oder nur die vielbeschrienen Chaoten durchs Land ziehen, interessiert dabei keinen. Denn die SPD wartet schon lange darauf, billig aus ihrem Atomausstiegs-Versprechen herauszukommen."