April 1996 |
960403 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der zehnte Jahrestag der Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl hat eine Vielzahl von Berichten, politischen Stellungnahmen,
Tagungen und Kundgebungen ausgelöst. Während die Bundesregierung
bekräftigte, daß die Kernenergie "auf absehbare
Zeit" unentbehrlich sei, erneuerten SPD und Grüne ihre
Forderung nach einem Ausstieg aus der Kernenergie. Unter dem Motto
"Tschernobyl ist überall" demonstrierten insgesamt
etwa 15 000 Menschen in Biblis, Krümmel, Ahaus, Magdeburg,
München und Gundremmingen für die sofortige Stillegung
aller Kernkraftwerke (FAZ, 26.4.; FR, 29.4).
In Wien begann am 9.4. eine viertägige Konferenz über
die Folgen der Reaktorkatastrophe, zu der die Internationale Atomenergie-Organisation
(IAEO), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Europäische
Union (EU) eingeladen hatten. In ihrem Schlußpapier befürworteten
die rund tausend Teilnehmer der Konferenz eine sicherheitstechnische
Nachrüstung aller Reaktoren des Tschernobyl-Typs. Sollte
eine Nachrüstung nicht möglich sein, wird die Stillegung
empfohlen. Die Konferenz sah keine akute Gefahr durch die brüchige
Betonhülle des zerstörten Reaktorblocks, hielt aber
die Stabilität der Konstruktion auf längere Sicht für
fragwürdig. Die Gesamtzahl der Opfer von Tschernobyl wird
in dem Schlußpapier mit 32 Toten und 237 Verletzten angegeben.
Ferner wird auf rund 800 Fälle von Schilddrüsenkrebs
bei Kindern in Weißrußland und der Ukraine verwiesen.
Die Umweltorganisation Greenpeace beschuldigte daraufhin die IAEO,
die Folgen des Unglücks zu verharmlosen und sich als "Handlanger
der Atomlobby" zu betätigen. Auf einer von Greenpeace
arrangierten Pressekonferenz behauptete die ukrainische Ärztin
Natalja Preobraschenskaja, daß seinerzeit zur Bekämpfung
der Katastrophe rund 600 000 "Liquidatoren" eingesetzt
worden seien, von denen inzwischen 60 000 gestorben und weitere
49 000 schwer behindert seien (SZ, 13.4.; FR, 13.4.; FAZ, 12.4.).
Am 23.4. brach in der Sperrzone um das Kernkraftwerk Tschernobyl ein Waldbrand aus. Dabei wurden auch radioaktive Partikel aus Bäumen und Boden mit der Asche vom Wind verweht. Es ist ungewiß, ob dadurch außerhalb der Sicherheitszone eine erhöhtes Gesundheitsrisiko durch Radioaktivität entstand (taz, 25.4.).
Die Wiener Tschernobyl-Konferenz wurde in den Medien überwiegend
skeptisch kommentiert. "Nirgends wird soviel geheuchelt wie
auf internationalen Konferenzen", bemerkte die Süddeutsche
Zeitung (26.4.). Der Westen habe es fälschlicherweise der
Nuklearindustrie überlassen, über die notwendigen Konsequenzen
der Katastrophe nachzudenken. Diese sei aber hauptsächlich
am Export ihrer Sicherheitstechnik und dem Bau neuer Kernkraftwerke
interessiert. Inzwischen habe die Ukraine die maroden Anlagen
in Tschernobyl als Goldgrube entdeckt und operiere bewußt
mit dem Risiko einer erneuten Katastrophe, um den Westen finanziell
erpressen zu können.
Empörte Kommentare lösten die im Schlußbericht
gemachten Angaben zur Zahl der Opfer aus. Für die Frankfurter
Rundschau (11.4.) sind sie "eine Verhöhnung der gestorbenen
und lebenden Opfer". Für die tageszeitung (26.4.) hat
die IAEO eine "von der Sowjetnomenklatura geerbte Lüge"
neu aufgewärmt. Beide Zeitungen verwiesen in diesem Zusammenhang
auf eine Schätzung des Münchener Strahlenmediziners
Edmund Lengfelder, wonach die Katastrophe von Tschernobyl inzwischen
etwa 25 000 Tote gefordert haben könnte.