GEMEINSAME REGELN FÜR DEN ELEKTRIZITÄTSBINNENMARKT
Nach langer Debatte ist der Rat auf der Grundlage eines Gesamtkompromisses des Vorsitzes einstimmig zu einer politischen Einigung über einen gemeinsamen Standpunkt zum geänderten Vorschlag für eine Richtlinie betreffend gemeinsame Regeln für den Elektrizitätsbinnenmarkt gelangt. Die deutsche Delegation hat es sich vorbehalten, ihre Zustimmung bis zum 1. Juli 1996 zu bestätigen.
Der gemeinsame Standpunkt wird nach seiner Überarbeitung durch die Rechts- und Sprachsachverständigen förmlich angenommen werden. Anschließend wird er dem Europäischen Parlament für eine zweite Lesung im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens übermittelt werden.
Wie erinnerlich hat die Kommission den ursprünglichen Vorschlag im Februar 1992 und den geänderten Vorschlag im Februar 1994 vorgelegt. Die nunmehr erzielte Einigung stellt daher dem vorläufigen Abschluß mehrjähriger schwieriger Verhandlungen dar.
Auf dem Elektrizitätssektor kommt der Vollendung des Binnenmarkts besondere Bedeutung zu. Es gilt, unter gleichzeitiger Stärkung der Versorgungssicherheit und der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sowie unter Wahrung des Umweltschutzes die Effizienz bei der Erzeugung, Übertragung und Verteilung dieses Produkts zu verbessern.
Mit der vorgeschlagenen Richtlinie werden gemeinsame Vorschriften für die Elektrizitätserzeugung, -übertragung und -verteilung erlassen. Sie trägt jedoch auch der Tatsache Rechnung, daß die Vollendung des Elektrizitätsbinnenmarkts schrittweise erfolgen muß, damit die Elektrizitätsindustrie sich dem neuen Umfeld anpassen kann und weil zu berücksichtigen ist, daß die Elektrizitätssysteme gegenwärtig unterschiedlich aufgebaut sind. Derzeit bestehen nämlich in den einzelnen Mitgliedstaaten strukturelle Unterschiede und dementsprechend unterschiedliche Regelungen für den Elektrizitätssektor.
Der Entwurf für den gemeinsamen Standpunkt sieht folgende Hauptbestimmungen für die Richtlinie vor:
Allgemeine Vorschriften für die Organisation des Sektors/gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen
Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, daß Elektrizitätsunternehmen nach den in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätzen und im Hinblick auf die Errichtung eines wettbewerbsorientierten Elektrizitätsmarktes betrieben werden. Sie sorgen auch dafür, daß hinsichtlich der Rechte und Pflichten allen Unternehmen die gleiche Behandlung zuteil wird. Die beiden in der Richtlinie vorgesehenen Netzzugangskonzepte müssen zu gleichwertigen wirtschaftlichen Ergebnissen in den Mitgliedstaaten und daher zu einer direkt vergleichbaren Marktöffnung sowie einem direkt vergleichbaren Zugang zu Elektrizitätsmärkten führen.
Die Mitgliedstaaten können den Elektrizitätsunternehmen
gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im Allgemeininteresse auferlegen,
die sich auf die Sicherheit, einschließlich der Versorgungssicherheit,
die Regelmäßigkeit, die Qualität und den Preis der Lieferungen
sowie auf den
Umweltschutz beziehen können. Die Verpflichtungen
müssen klar definiert, transparent, nichtdiskriminierend und überprüfbar
sein.
Die Mitgliedstaaten können bestimmte Vorschriften der Richtlinie (über den Bau neuer Produktionsanlagen und die Organisation des Netzzugangs) nicht anwenden, soweit ihre Anwendung die Erfüllung der den Elektrizitätsversorgungsunternehmen übertragenen gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen verhindern würde. Diese Nichtanwendung darf allerdings den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht in einem Ausmaß beeinträchtigen, das den Interessen der Gemeinschaft zuwiderlaufen würde.
Energieerzeugung
Was den Bau neuer Erzeugungsanlagen anbelangt, so können die Mitgliedstaaten zwischen einem Genehmigungsverfahren und/oder einem Ausschreibungsverfahren wählen. Bei den Genehmigungen sind ebenso wie bei den Ausschreibungen objektive, transparente und nichtdiskriminierende Kriterien anzuwenden.
Aus Umweltschutzgründen kann der Elektrizitätserzeugung auf der Grundlage erneuerbarer Energien Vorrang eingeräumt werden.
Betrieb des Übertragungsnetzes
Jedes Übertragungsnetz muß einem zentralen Management und zentraler Überwachung unterliegen, damit die Sicherheit, Zuverlässigkeit und Effizienz des Netzes im Interesse der Erzeuger und Verbraucher gewährleistet ist. Daher muß ein Betreiber des Übertragungsnetzes benannt werden, dem der Betrieb, die Wartung und gegebenenfalls der Ausbau des Netzes obliegen. Dieser Betreiber des Übertragungsnetzes ist verantwortlich für die Inanspruchnahme der Erzeugungsanlagen in seinem Gebiet und für die Nutzung der Verbindungsleitungen mit den anderen Netzen.
Betrieb des Verteilernetzes
Auf Verteilungsebene können Konzessionen zur Versorgung der Kunden in einem bestimmten Gebiet vergeben werden, und es muß ein Betreiber für das Verteilernetz benannt werden, dem der Betrieb, die Wartung und gegebenenfalls der Ausbau des jeweiligen Verteilernetzes obliegen.
Die Mitgliedstaaten können den Verteilergesellschaften
auch die Verpflichtung auferlegen, Kunden in einem bestimmten Gebiet zu
beliefern.
Der Tarif für diese Lieferungen kann festgelegt
werden, z.B. um die Gleichbehandlung der Kunden zu gewährleisten.
Entflechtung und Transparenz des Wettbewerbs
Die Rechnungslegung aller integrierten Elektrizitätsunternehmen
muß ein Höchstmaß an Transparenz aufweisen, insbesondere
im Hinblick auf die Feststellung von möglichen mißbräuchlichen
Ausnutzungen einer marktbeherrschenden Stellung, die z.B. in anomal hohen
oder niedrigen
Tarifen oder in der Anwendung unterschiedlicher
Bedingungen bei gleichwer- tigen Leistungen bestehen können. Hierfür
muß die Rechnungslegung für jede Aktivität getrennt erfolgen.
Organisation des Netzzugangs
Hinsichtlich des Netzzugangs können die Mitgliedstaaten zwischen zwei Systemen wählen, die nach objektiven, transparenten und nichtdiskriminierenden Kriterien zu handhaben sind.
1.System des Netzzugangs auf Vertragsbasis:
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit die Elektrizitätserzeuger (und, soweit die Mitgliedstaaten solche Unternehmen zulassen, die Elektrizitätsversorgungsunternehmen) sowie die zugelassenen Kunden, die sich innerhalb und außerhalb des Netzgebiets befinden, einen Netzzugang aushandeln können, um untereinander Lieferverträge auf der Grundlage freiwilliger kommerzieller Vereinbarungen schließen zu können.
Der Betreiber des betreffenden Verteiler- bzw. Übertragungsnetzes kann den Zugang verweigern, wenn er nicht über die nötige Kapazität verfügt.
2.Alleinabnehmersystem:
Die Mitgliedstaaten benennen eine juristische Person als Alleinabnehmer innerhalb des vom Netzbetreiber abgedeckten Gebiets. In diesem Fall treffen sie die erforderlichen Maßnahmen, damit
-ein nichtdiskriminierender Tarif für die Nutzung des Übertragungs- und Verteilersystems veröffentlicht wird;
-die zugelassenen Kunden zur Deckung ihres Eigenbedarfs Lieferverträge mit Elektrizitätserzeugern (und, soweit die Mitgliedstaaten solche Unternehmen zulassen, mit Elektrizitätsversorgungsunternehmen) außerhalb des von dem System abgedeckten Gebiets oder mit unabhängigen Erzeugern innerhalb dieses Gebiets schließen können.
Der Alleinabnehmer kann den Netzzugang verweigern und die Abnahme der Elektrizität von den zugelassenen Kunden ablehnen, wenn er nicht über die notwendige Übertragungs- oder Verteilungskapazität verfügt.
Marktöffnung
Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um eine Öffnung ihrer Elektrizitätsmärkte sicherzustellen, so daß Lieferverträge nach den beiden genannten Systemen geschlossen werden können - "zumindest bis zu einer Obergrenze", die einen erheblichen Wert darstellt und die der Kommission jährlich mitzuteilen ist.
Ausgangspunkt der Marktöffnung ist der Gesamtverbrauch (in der Gemeinschaft) der Endverbraucher mit einem Jahresverbrauch von mehr als 40 GWh. Ihr Anteil am Verbrauch dient als Grundlage für die Berechnung der Marktquote, die dem Wettbewerb zu öffnen ist.
Die durchschnittliche Gemeinschaftsquote, die den
Mindestgrad der Marktöffnung bestimmt, ist von der Kommission zu berechnen.
Bei dem
angegebenen Schwellenwert von 40 GWh wird dieser
Grad auf 22,66 % geschätzt (gewichteter Mittelwert für die Gemeinschaft).
Es ist vorgesehen, den Markt in zwei Schritten weiter zu öffnen: drei Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie soll die als Berechnungsgrundlage dienende jährliche Verbrauchsschwelle von 40 GWh auf 20 GWh gesenkt werden; nach drei weiteren Jahren auf 9 GWh (was einer durchschnittlichen Öffnung des Elektrizitätsmarktes der Mitgliedstaaten von 30,05 % nach sechs Jahren entsprechen würde).
Die "zugelassenen Kunden", d.h. die Verbraucher,
die diese Marktöffnung nutzen und nach einem der beiden genannten
Systeme
Elektrizitätslieferverträge schließen
können, werden von den Mitgliedstaaten benannt. Endverbraucher, die
mehr als 100 GWh verbrauchen, gehören automatisch zu den zugelassenen
Kunden.
Verteilungsunternehmen, die nicht bereits als zugelassene Kunden benannt sind, haben die Rechts- und Geschäftsfähigkeit, um über die Strommenge, die ihre Kunden, die als zugelassene Kunden benannt wurden, innerhalb ihres Verteilungssystems verbrauchen, Lieferverträge zu schließen.
Ungleichgewichtsvermeidungsklausel
Um Ungleichgewichte bei der Öffnung der Elektrizitätsmärkte zu vermeiden, gilt bis zur Überprüfung der Richtlinie (d.h. neun Jahre lang) folgende Klausel:
Elektrizitätslieferverträge mit einem zugelassenen Kunden aus dem System eines anderen Mitgliedstaats dürfen nicht untersagt werden, wenn der Kunde in den beiden betreffenden Systemen als zugelassener Kunde betrachtet wird. In den Fällen, in denen Geschäfte nicht zustande kommen, weil Unterschiede bei der Benennung der zugelassenen Kunden bestehen, kann die Kommission - auf Antrag des Staates, in dem der zugelassene Kunde ansässig ist, und unter Berücksichtigung der Marktlage und des gemeinsamen Interesses - vorschreiben, daß die gewünschten Elektrizitätslieferungen ausgeführt werden.
Nach viereinhalb Jahren prüft die Kommission unter Zugrundelegung der Marktlage und unter Berücksichtigung des gemeinsamen Interesses das Funktionieren dieser Bestimmungen. Sie wird dann über etwaige Ungleichgewichte bei der Öffnung der Elektrizitätsmärkte Bericht erstatten.
Unabhängige Erzeuger und Eigenerzeuger
Unabhängige Erzeuger und Eigenerzeuger müssen die Möglichkeit erhalten, einen Zugang zum Netz aushandeln zu können, um ihre eigenen Betriebsstätten und Tochterunternehmen zu versorgen.
Direktleitungen
Vorbehaltlich einer Baugenehmigung und gegebenenfalls weiterer Bedingungen müssen alle Elektrizitätserzeuger und alle Elektrizitätsversorgungsunternehmen die Möglichkeit haben, ihre eigenen Betriebsstätten, Tochterunternehmen und zugelassenen Kunden über eine Direktleitung zu versorgen. Das Recht einer Versorgung über eine Direktleitung wird auch den zugelassenen Kunden selbst zugestanden.
Verhinderung des Mißbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung
Die Mitgliedstaaten schaffen geeignete und wirksame Mechanismen für die Regulierung, die Kontrolle und die Sicherstellung von Transparenz, um den Mißbrauch von marktbeherrschenden Stellungen zum Nachteil insbesondere der Verbraucher und Verdrängungspraktiken zu verhindern.
Schutzklausel
Treten plötzliche Marktkrisen im Energiesektor auf oder ist die Sicherheit von Personen, Geräten oder Anlagen oder die Unversehrtheit des Netzes gefährdet, so kann ein Mitgliedstaat - unter Kontrolle der Kommission - vorübergehend die notwendigen Schutzmaßnahmen treffen.
Diese Maßnahmen dürfen nur ein Mindestmaß an Störungen im Funktionieren des Binnenmarktes hervorrufen und nicht über das zur Behebung der plötzlich aufgetretenen Schwierigkeiten unbedingt erforderliche Maß hinausgehen.
Übergangs- und Ausnahmeregelungen
Mitgliedstaaten, in denen vor Inkrafttreten dieser Richtlinie auferlegte Verpflichtungen oder erteilte Betriebsgarantien möglicherweise nicht erfüllt werden können, können eine Übergangsregelung beantragen, die ihnen von der Kommission unter anderem unter Berücksichtigung der Dimension des betreffenden Systems, des Verbundgrads des Systems und der Struktur seiner Stromindustrie gewährt werden kann.
Mitgliedstaaten, die nach Inkrafttreten dieser Richtlinie nachweisen können, daß sich für den Betrieb ihres kleinen, isolierten Netzes erhebliche Probleme ergeben, können Ausnahmeregelungen gewährt werden (diese Möglichkeit gilt auch für Luxemburg).
Bericht
Vor Ablauf des ersten Jahres nach Inkrafttreten
der Richtlinie legt die Kommission einen Bericht über den nicht mit
dieser Richtlinie
zusammenhängenden Harmonisierungsbedarf vor.
Sie fügt dem Bericht gegebenenfalls Vorschläge bei.
Überprüfungsklausel
Die Kommission überprüft die Anwendung der Richtlinie und legt zu diesem Zweck einen Bericht über die Erfahrungen mit dem Funktionieren des Elektrizitätsbinnenmarkts und mit der Durchführung der allgemeinen Vorschriften für die Organisation des Sektors vor, damit der Rat und das Europäische Parlament zu gegebener Zeit im Lichte der gesammelten Erfahrung und unter Berücksichtigung des gleichzeitigen Bestehens der beiden in der Richtlinie vorgesehenen Systeme die Möglichkeit einer weiteren Öffnung des Marktes prüfen kann, die neun Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie erfolgen könnte.
Frist für die Umsetzung in einzelstaatliches Recht
Die Mitgliedstaaten haben nach der endgültigen Annahme der Richtlinie zwei Jahre Zeit, diese in einzelstaatliches Recht umzusetzen. Aufgrund technischer Besonderheiten ihrer jeweiligen Elektrizitätsnetze können drei Mitgliedstaaten (Belgien, Griechenland und Irland) eine zusätzliche Frist in Anspruch nehmen, um den Verpflichtungen aus dieser Richtlinie nachzukommen, darunter auch den Vorschriften über die schrittweise Marktöffnung: diese zusätzliche Frist beträgt für Griechenland zwei Jahre, für Belgien und Irland ein Jahr.