Mai 1998 |
980501 |
ENERGIE-CHRONIK |
Große Aufregung in Medien und Politik lösten im Mai radioaktive Verunreinigungen an Transportbehältern aus, die mit abgebrannten Brennelementen aus deutschen Kernkraftwerken zur Wiederaufarbeitung nach Frankreich geschickt worden waren. Die Oberfläche der Behälter war nach der Beladung in den Kernkraftwerken vorschriftsgemäß dekontaminiert und per "Wischtest" auf die Einhaltung des vorgeschriebenen Grenzwerts von vier Becquerel pro Quadratzentimeter überprüft worden. Dennoch ergaben spätere Wischtests in Frankreich zum Teil wesentlich höhere Werte durch radioaktive Verunreinigungen an der Oberfläche der Behälter oder im Waggon. Das Bundesumweltministerium wurde erstmals am 24.4. von den französischen Behörden über entsprechende Befunde informiert. Von insgesamt 68 Transporten, die 1997/98 nach La Hague gingen, waren 16 betroffen. Auch in der britischen Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield - so stellte sich auf Nachfrage heraus - wurden an einem Transportbehälter aus Deutschland erhöhte Werte gemessen.
Den Hintergrund bildet, daß die Transportbehälter im Abklingbecken beladen werden, dessen Kühlwasser leicht radioaktiv ist. Die radioaktiven Partikel können sich auf der Behälteroberfläche ablagern. Man unterzieht deshalb die Behälter anschließend einer Reinigung. Ob die Dekontamination erfolgreich war, läßt sich nicht direkt an der Oberfläche messen, da die zulässige Strahlung der Brennelemente aus dem Innern des beladenen Behälters weit stärker ist als die Strahlung einer eventuellen Verunreinigung an der Außenfläche. Man nimmt deshalb einen Wischtest an verschiedenen Stellen des dekontaminierten Behälters vor und untersucht die entnommenen Proben anschließend separat auf die Einhaltung des vorgeschriebenen Grenzwerts. Dieser ist mit 4 Bq/cm2 so niedrig, daß er auch bei vielfach höheren Werten für die Strahlenexposition des Begleitpersonals der Transporte keine Bedeutung hat. Die Strahlenexposition wird vielmehr ausschließlich durch die Brennelemente im Innern des Behälters verursacht und durch die Abschirmwirkung der Behälterwand auf unbedenkliche Werte herabgesetzt. Eine mögliche Verschleppung der Verunreinigungen ist wegen der äußerst geringen Mengen und wegen der Spezialwaggons mit Abdeckhauben und Auffangwannen wirksam unterbunden.
Da alle Transportbehälter in den deutschen Kernkraftwerken vorschriftsgemäß dekontaminiert und überprüft worden waren, bevor sie nach La Hague und Sellafield gingen, konnte die erhöhte Radioaktivität an ihrer Oberfläche erst während des Transports aufgetreten sein. Die Ursache dafür sind offenbar radioaktive Partikel, die sich der Dekontamination des beladenen Behälters und dem anschließenden Wischtest zunächst entziehen, weil sie sich mit Resten des Kühlwassers, mit dem der Transportbehälter beim Verladen der Brennelemente im Kernkraftwerk in Berührung gekommen ist, an schwer zugänglichen Stellen des Transportbehälters einnisten. Erst während des Transports, wenn die Feuchtigkeit verdunstet, können die radioaktiven Partikel freigesetzt und infolge der mechanische Beanspruchung des Behälters an die Oberfläche befördert werden, so daß ein erneuter Wischtest erhöhte Becquerel-Werte ergeben kann.
Wie sich jetzt herausstellte, war dieses Dekontaminations-Problem in Fachkreisen seit Jahren bekannt. Die Techniker in den Anlagen hatten sich auch um Abhilfe bemüht. Die ergriffenen Maßnahmen waren aber nur zum Teil erfolgreich. Bei den in Deutschland verwendeten "Castor"-Behältern gab es hingegen kaum derartige Probleme. So begnügten sich die Techniker damit, die Dekontamination der französischen und englischen Transportbehälter, an denen dieses Problem auftrat, vor Abgang der Transporte nach La Hague und Sellafield weiter zu verbessern. Es erfolgte jedoch meistens keine Information der Unternehmensleitungen und der Behörden, zumal eine konkrete Meldepflicht nicht bestand. Die politische und mediale Dimension des Problems scheint von den Technikern verkannt worden zu sein.
In der Berichterstattung und Kommentierung der Medien geriet die unzureichende Dekontamination der Transportbehälter im Monat Mai zu einem beherrschenden Thema. In der Regel wurde dabei nicht genügend zwischen den radioaktiven Verunreinigungen an der Oberfläche der Behälter und der eigentlichen Strahlung durch die abgebrannten Brennelemente unterschieden. In der Öffentlichkeit entstand so der Eindruck, als ob die "Castor"-Behälter - als solche wurden auch die französischen und englischen Transportbehälter fälschlicherweise bezeichnet - an sich um ein Vielfaches stärker gestrahlt hätten als erlaubt. Mitunter scheint beim Publikum sogar der Eindruck entstanden zu sein, als ob die Behälter nicht ganz dicht seien und es deshalb zu radioaktiven Verunreinigungen an ihrer Oberfläche gekommen sei. Beides ist indessen falsch: Die Behälter waren nachweislich dicht, und die zusätzliche Strahlenbelastung infolge der Kontamination betrug weniger als ein zehntausendstel der ohnehin vorhandenen.
Unabhängig von der tatsächlichen Bedeutung des Dekontaminationsproblems zeigt es für viele Kritiker beispielhaft, daß es der Kernenergiewirtschaft an der notwendigen Transparenz fehle. Die Verheimlichung der nachträglich erhöhten Werte durch die informierten Fachkreise sogar gegenüber den eigenen Unternehmensleitungen demonstriere, daß eine effektive Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden in Bund und Ländern gar nicht möglich sei.
Entsprechend stark waren die Reaktionen auf politischer Ebene, wo bereits der Wahlkampf für die Bundestagswahlen im Herbst begonnen hat. Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) fühlte sich düpiert, weil sie erst von französischer Seite informiert worden war und weil ihr nun kurz vor den Wahlen vorgeworfen wurde, die Kernkraftwerksbetreiber nicht genügend zu kontrollieren. Am 25.5. legte Merkel einen Zehn-Punkte-Plan vor, um sicherzustellen, daß sich derartige Versäumnisse nicht wiederholen können. Im Einvernehmen mit Merkel beschlossen die KKW-Betreiber einen vorläufigen Stop aller Transporte bestrahlter Brennelemente nach dem In- und Ausland. Er soll solange gelten, bis die Ursachen der nachträglich erhöhten Werte vollständig geklärt sind und die in dem Zehn-Punkte-Plan vorgesehene Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen Frankreich, Großbritannien und den Kernkraftwerksbetreibern verwirklicht ist (SZ, 22.5.; FR, 28.5.).
Der Präsident des Deutschen Atomforums, Wilfried Steuer, entschuldigte sich bei der Bundesumweltministerin für die Unregelmäßigkeiten bei den Brennelemente-Transporten: "Mir tut es persönlich ganz außerordentlich leid, daß ausgerechnet die Atomwirtschaft die Ministerin jetzt in erhebliche politische Schwierigkeiten gebracht hat", sagte er am 26.5. auf der Jahrestagung Kerntechnik '98 in München. Gleichzeitig appellierte er an die Ministerin: "Entziehen Sie bitte jenen, die bisher auf Vorstandsebene ihre Gesprächspartner waren, nicht Ihr Vertrauen. Wir haben Sie keineswegs hintergangen oder getäuscht. Wir selbst haben ebenso erst jetzt von bestimmten Vorgängen bei der Dekontamination von Transportbehältern erfahren, obgleich dies auf Technikerebene seit Jahren ein Thema ist."
Steuer stellte klar, daß für die Transporte in ausländische Wiederaufaufarbeitungsanlagen keine Castor-Behälter im engeren Sinne benutzt werden, sondern vergleichbare französische oder englische Behälter. Ferner wies er darauf hin, daß die radioaktiven Verschmutzungen nicht aus dem Behälter selber stammen und die Behälter selber dicht sind. Auch habe zu keiner Zeit eine radiologische Gefährdung für das Transportpersonal oder die begleitenden Polizeibeamten bestanden. Die "wüsten Attacken" der Polizeigewerkschaft seien ihm deshalb unverständlich (FAZ, 27.5.).
Im Bundestag kam es am 27.5. zu einer erregten Debatte, nachdem SPD, Grüne und FDP eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt hatten. Der SPD-Umweltpolitiker Michael Müller richtete an Bundesumweltministerin Merkel das Ansinnen, sich bei den Demonstranten gegen die Castor-Transporte zu entschuldigen, da sich nun zeige, daß "kriminelle Energie" in erster Linie bei den Kernkraftwerksbetreibern und nicht bei deren Gegnern vorhanden gewesen sei. Auch Grünen-Fraktionschef Joschka Fischer verlangte eine "Entschuldigung bei den friedlichen Demonstranten". Die Grünen forderten überdies den Rücktritt Merkels. Ihr Antrag wurde indessen nur von der PDS unterstützt, während sich die SPD der Stimme enthielt. Die Bundesumweltministerin wies die Vorwürfe der Opposition zurück und sah die Verantwortung für den politischen Schaden aus der Affäre bei den Energieversorgungsunternehmen. Bundeskanzler Kohl sprang seiner Ministerin bei und warf ihren Kritikern ein "mieses Spiel" vor (SZ, 28.5.).
Für die Süddeutsche Zeitung (25.5.) liegt das eigentliche Problem nicht so sehr in den nachträglich erhöhten Werten an den "Castor-Behältern", als in der Verheimlichung des Sachverhalts durch die Insider: "Stolpert eine Bundesministerin über nicht sorgsam geputzte Müllbehälter? Was ist am Fall Castor so aufregend? Es trifft doch höchstwahrscheinlich zu, daß kein Polizist und kein Demonstrant durch den Kontakt mit einem der Container für atomare Brennelemente zu Schaden gekommen ist. Aber darum geht es gar nicht. Es geht vielmehr um die Glaubwürdigkeit der Atompolitik einer Bundesregierung, deren verantwortliche Ministerin ihre Ahnungslosigkeit bekennen muß. Und das auf einem Gebiet, das extreme Sorgfalt erfordert, um überhaupt beherrschbar zu sein."
Die Frankfurter Allgemeine (26.5.) erinnerte daran, daß sich Angela Merkel als Ministerin jahrelang für die Kernkraft eingesetzt und den Angaben der Kernkraftwerksbetreiber zur Sicherheit vertraut habe: "Damit ist es jetzt vorbei. Alle Parteien sind über das Wahlkampfgetöse und gegenseitige Schuldzuweisungen hinaus zutiefst verärgert über die Kraftwerksbetreiber und ihr Verhalten. Deren Ausrede, daß die Grenzwerte nur minimal überschritten worden seien, ohne Gefahr für Leib und Leben auszulösen, mag richtig sein. Doch das geht an der Sache vorbei. Die Stromwirtschaft weiß, daß es in der heiklen Frage der Kernkraft gerade in Deutschland darauf ankommt, ehrlich und offen zu sein, und zwar auf penibelste Weise. Der jetzt eingetretene Vertrauensverlust ist so groß, daß eine längerfristige Zukunft für die Kernkraft hierzulande kaum noch denkbar erscheint."
Für die seit jeher besonders kernkraftkritische
Frankfurter Rundschau (26.5.) begründet die Affäre sogar
hinreichende Zweifel an der vom Atomgesetz geforderten Zuverlässigkeit
der Kernkraftwerksbetreiber: "Wer Grenzwert-Übertretungen
nicht meldet und womöglich weitere in Kauf nimmt, ist eben
nicht zuverlässig. Konsequenz kann in nachgewiesenen Fällen
nur der Widerruf von Genehmigungen sein. Die Stromversorger bloß
anzugiften und ihnen mit Auflagen zur Meldepflicht zu drohen,
wie dies bislang Merkels Linie ist, kann ja wohl nicht die Lösung
sein."