Juli 1998 |
980701 |
ENERGIE-CHRONIK |
Im Gefolge des wochenlangen Wirbels um die Grenzwertüberschreitungen an Transportbehältern erlebte die Diskussion um einen Ausstieg aus der Kernenergie im Juli erneuten Auftrieb. Neben den Grünen, die seit jeher die schnellstmögliche Abschaltung aller Kernkraftwerke verlangen, profilierte sich nun auch die SPD im Bundestagswahlkampf wieder verstärkt mit Ausstiegs-Szenarien, die für die in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke mehr oder weniger lange Restlaufzeiten vorsehen.
Die Vorstandssprecherin der Grünen, Gunda Röstel, bezeichnete gegenüber der tageszeitung (30.6.) ein Ausstiegsgesetz als "ein Essential für eine Regierungsbeteiligung". Die Dauer für den Ausstieg dürfe nicht über zwei Legislaturperioden hinausgehen. Sie reagierte damit auf eine vorangegangene Ankündigung des SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder, daß er einen Ausstieg erst in "zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren" für möglich halte.
In einem Interview mit dem Magazin stern (2.7.) antwortete Schröder auf die Frage, innerhalb welchen Zeitraums er den Ausstieg aus der Kernenergie vollziehen wolle: "Der Ausstieg dauert so lange wie der Einstieg". Auf die Nachfrage, ob er damit 30 Jahre meine, fügte er hinzu: "Wenn es nicht gelingt, den Ausstieg im Konsens zu organisieren, wird man an solche Zeiträume denken müssen. Im Konsens geht es schneller."
Die hessische Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) ließ Anfang Juli verlauten, daß sie den Entwurf für ein bundesweites "Atomausstieggesetz" in der Schublade habe, demzufolge jede Betriebsgenehmigung für Kernkraftwerke spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes erlöschen würde. Ihre sozialdemokratischen Koalitionspartner bekundeten allerdings keine Bereitschaft, den Gesetzentwurf mitzutragen, was Voraussetzung wäre, um ihn über den Bundesrat in das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren einzubringen (Handelsblatt, 7.7.).
Ende Juli berichteten die Medien vorab über einen Artikel im Spiegel (3.8.), wonach Schröder im Konsens mit den Energieversorgern eine Vereinbarung über Restlaufzeiten für alle Kernkraftwerke erreichen will. Falls diese sich dem Ansinnen widersetzen, wolle er z.B. ein gesetzliches Verbot der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente in Frankreich oder Großbritannien herbeiführen, wodurch die Kernkraftwerksbetreiber gezwungen würden, einen Teil ihrer Entsorgungs-Rückstellungen in Milliardenhöhe aufzulösen.
Im einzelnen sehe Schröders Plan vor, schon innerhalb der ersten Legislaturperiode die sechs ältesten Reaktoren Obrigheim, Stade, Biblis A und B, Neckarwestheim 1 und Brunsbüttel abzuschalten. Für die übrigen Reaktoren solle eine Frist von maximal 40 Jahren gelten. Dies würde bedeuten, daß die jüngsten Anlagen Neckarwestheim 2 und Emsland bis zum Jahr 2028 am Netz bleiben dürften. Der Streit um die Castor-Transporte solle durch den Bau kleinerer Zwischenlager an allen Kraftwerksstandorten beendigt werden, so daß sich weitere Transporte nach Gorleben oder Ahaus vorerst erübrigen.
Für den Tagesspiegel (1.7.) stellt sich die Lage folgendermaßen dar: "Mangels wirtschaftlich aussichtsreicher Neuinvestitionen hat der Ausstieg aus der Kernenergie bereits begonnen. Es ist nur noch die Frage, ob die Politik auf die Abwicklung gestaltend Einfluß nimmt. Im Beraterkreis des SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder ist man sich dieser Prognose sicher. Wenn die Energieversorger heute eingestehen würden, sie wollten kein neues AKW mehr, dann wäre das so, als ob Berti Vogts erklärte, der Ball ist rund. Für Selbstverständlichkeiten aber gibt es keine politischen Gegenleistung."