Juli 1998 |
980704 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die bayerische Landesregierung beschloß am 14.7., an keinem der vier neuen Standorte für Kernkraftwerke festzuhalten, die in dem seit 1978 bestehenden Standortsicherungsplan für Wärmekraftwerke vorgesehen waren. Der Standortsicherungsplan soll entsprechend überarbeitet und nach den bevorstehenden Landtagswahlen dem neuen Landtag zur Zustimmung vorgelegt werden. Die vorgesehenen neuen KKW-Standorte seien "angesichts der energiewirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere angesichts der Entwicklung des Stromverbrauchs entbehrlich geworden", begründete Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) den Kabinettsbeschluß. Der hohe Anteil der Kernenergie an der bayerischen Stromerzeugung bleibe jedoch "auch in Zukunft sowohl aus ökonomischen als auch aus ökologischen Gründen sinnvoll". Die Arbeiten zur Weiterentwicklung der Kernenergie als Bestandteil des zukünftigen Energie-Mix müßten weiter fortgesetzt werden. Insbesondere unterstütze die Landesregierung mit Nachdruck die Anstrengungen der Energiewirtschaft zur Entwicklung des neuen Reaktortyps EPR (SZ, 15.7.).
Noch vor einem Jahr hatte Wirtschaftsminister Otto Wiesheu (CSU) der Ökologisch-Demokratischen Partei (ÖDP) versichert, daß er an allen Standorten für neue Kernkraftwerke festhalten wolle. Die ÖDP startete daraufhin ein Volksbegehren unter dem Motto "Kein neues Atomkraftwerk in Bayern". Am 4.7. präsentierte der ÖDP-Vorsitzende Bernhard Suttner auf dem Parteitag in München die ersten 25 000 Unterschriften, die nötig sind, um beim Innenministerium das Volksbegehren beantragen zu können (SZ, 6.7.).
Den Verzicht auf neue KKW-Standorte hatte Ministerpräsident Stoiber erstmals am 4.7. auf einer Bezirksversammlung der Jungen Union in der Stadt Rosenheim angekündigt, in deren Nähe der vorgesehene Standort Marienberg liegt. Die anderen drei geplanten Standorte für neue Kernkraftwerke waren Pleinting bei Passau, Viereth bei Bamberg und Pfaffenhofen an der Zusam (FR, 10.7.).
Die tageszeitung (10.7.) sieht hinter dem Beschluß der bayerischen Landesregierung wahltaktische Überlegungen: "Als letzte Partei in Deutschland hat nun auch die CSU begriffen, daß der heroische Einsatz für die Atomtechnologie am Wahltag nach hinten losgehen könnte. Der Skandal um die verseuchten Brennelementtransporte zeigt Wirkung."
Die Frankfurter Rundschau (10.7.) meinte: "Stoibers Schachzug ist clever: Der Ober-Bayer schafft sich den Ärger vom Hals, den er mit Bürgerinitiativen an den im Plan stehenden Standorten hat, ohne wirklich in die aktuelle Energiepolitik eingreifen zu müssen."
Nach Feststellung der Süddeutschen Zeitung (11.7.) hat Stoiber mit der Streichung der geplanten Standorte "keinen Einstieg in den Ausstieg vollzogen, sondern nur geschickt im Wahlkampf ein wichtiges Thema besetzt. ... Ein paar rechtzeitige Korrekturen am Standortsicherungsplan sollen Eigenständigkeit signalisieren und die Atomindustrie vor weiterer Brüskierung warnen."
Nach Ansicht der Wochenzeitung Die Zeit
(16.7.) muß die Entscheidung der bayerischen Landesregierung
vor dem Hintergrund der Liberalisierung des Energiemarktes gesehen
werden: Nur die bestehenden, teilweise oder ganz abgeschriebenen
Kernkraftwerke seien für die Betreiber profitabel. Dagegen
seien neue Kernkraftwerke nicht mehr konkurrenzfähig. Auch
der neuentwickelte EPR werde deshalb keine Chance haben, alte
Reaktoren an bestehenden Standorten ersetzen zu können. Der
eigentlich Verantwortliche für den Stimmungsumschwung in
Sachen Kernenergie sei nicht Stoiber, sondern Bundeswirtschaftsminister
Günter Rexrodt: "Ohne richtig zu verstehen, was er da
anrichtet, hat der FDP-Politiker mit seiner Liberalisierung des
Strommarkts der Atomenergie mittelfristig den Garaus gemacht.
... Jetzt zählt, daß die Investitionssumme für
ein erdgasbetriebens Gas- und Dampfkraftwerk pro Kilowatt installierter
Leistung weniger als 1000 Mark beträgt. Für den neuen
Kernreaktor hätte das Bayernwerk zwischen 3000 und 6000 Mark
pro Kilowatt hinlegen müssen. Noch ungünstiger schlägt
zu Buche, daß der Bau des mindestens sechs, vielleicht aber
auch über zehn Milliarden Mark teuren EPR mehr als zehn Jahre
Planungs- und Bauzeit benötigt. Zwischenzeitlich könnten
wichtige Abnehmer längst zur Konkurrenz abwandern, oder die
ausländische Konkurrenz könnte mit Dumpingangeboten
auf den deutschen Markt drängen."