Januar 2011

110115

ENERGIE-CHRONIK




Aus Frankreich, mit dem es nach Oettingers Darstellung keine oder so gut wie keine Stromverbindung gibt, flossen von Januar bis November 2010 insgesamt 14.517 Gigawattstunden über die Grenzen nach Deutschland. Das Nachbarland behauptete damit seine traditionelle Spitzenposition bei den physischen Stromeinfuhren. Weitere Stromflüsse zwischen Deutschland und Frankreich verbergen sich hinter den Zahlen für Luxemburg, die Niederlande und die Schweiz. - Die hier genannten physischen Stromflüsse veranschaulichen zwar die Kapazität der direkten grenzüberschreitenden Verbindungen, dürfen aber nicht mit dem Stromhandel zwischen Deutschland und den Nachbarstaaten verwechselt werden. Gegenüber Frankreich erzielt Deutschland sogar einen erheblichen Exportüberschuß.
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen/BDEW

Oettinger dramatisiert weiterhin die Handels-Hemmnisse an den Kuppelstellen

EU-Energiekommissar Günther Oettinger dramatisiert weiterhin die Handels-Hemmnisse an den Kuppelstellen zwischen den Stromnetzen der europäischen Länder. Nachdem er gegenüber der "Frankfurter Rundschau" (8.11.) sogar behauptet hatte, daß kein Strom vom Elsaß nach Baden-Württemberg geleitet werden könne (101104), propagierte er nun auch im Gespräch mit dem "Handelsblatt" (26.1.) den Bau von milliardenteuren Strom-Autobahnen, die einen unbeschränkten Stromhandel in der EU ermöglichen sollen. Das Wirtschaftsblatt faßte die Quintessenz des Gesprächs in den folgenden Zeilen zusammen:

Schon allein aus technischen Gründen bleibt Konkurrenten der Zugang nach Frankreich verwehrt, denn die französischen Leitungen sind mit den Netzen der Nachbarstaaten nicht verbunden. "Es gibt kaum Kuppelstellen an der deutsch-französischen und der spanisch-französischen Grenze. Das muß sich ändern", sagte Oettinger.

Diese Darstellung ist teils falsch, teils widersprüchlich und insgesamt irreführend: Zunächst heißt es, daß die französischen Leitungen mit den Netzen der Nachbarstaaten gar nicht verbunden seien. Dann gibt es im folgenden Satz doch Kuppelstellen. Aber nur ganz wenige. In Richtung Deutschland sieht es angeblich so kümmerlich aus wie an der Grenze nach Spanien. Höchste Zeit also, daß einer kommt, um "den abgeschotteten Energiemarkt in Frankreich aufzubrechen". Einer wie Oettinger, der mit Blick auf den bevorstehenden Energiegipfel am 4. Februar per "Handelsblatt" furchtlos verkündet: "Wir werden einen freien Strom- und Gaswettbewerb in Frankreich und anderen Ländern durchsetzen - notfalls auch vor dem Europäischen Gerichtshof."

Anscheinend hat noch immer kein sachverständiger Mitarbeiter dem neuen EU-Energiekommissar beigebracht, daß es sehr wohl eine Reihe leistungsfähiger Stromverbindungen zwischen Frankreich und Deutschland gibt, denn ohne die lassen sich die rund 16 Terawattstunden nicht übertragen, die jährlich direkt über die französische Grenze nach Deutschland fließen (siehe Grafik). Das ist ein ganz schöner Brocken, der fast drei Prozent des deutschen Stromverbrauchs entspricht. Hinzu kommt jener beträchtliche Stromfluß zwischen beiden Staaten, der sich in den Zahlen für Luxemburg und die Niederlande niederschlägt, weil er über die Benelux-Staaten erfolgt. Eine weitere indirekte Verbindung besteht über die Schweiz.

Letzten Angaben zufolge verfügt Frankreich über folgende Netto-Übertragungskapazitäten zu den Nachbarländern:

 


Gesamtkapazitäten der Strom-Kupplungen
Frankreichs mit den Nachbarländern

NTC (Net Transfer Capacity) in Megawatt

Deutschland 2600 MW
Belgien 2900 MW
Schweiz 3000 MW
Großbritannien 2000 MW
Spanien 1200 MW
Italien 2400 MW
Quelle: ENTSO-E, NTC Values Summer 2010 (6.7.2010)

 

Die hier genannten NTC-Werte geben nur jene Leistungen an, die unter Berücksichtigung der auf beiden Seiten nachgelagerten Wechselstrom-Netze und der Beachtung der "N-minus-1-Regel" übertragen werden können . Die "thermische" Kapazität der Verbindungen ist erheblich größer. Isoliert betrachtet könnten die grenzüberschreitenden Leitungen noch erheblich mehr Strom übertragen, als hier angegeben ist, bevor sie zu "glühen" beginnen.

In der folgenden Auflistung sämtlicher Kuppelstellen des französischen Netzes mit den Nachbarn werden stets diese thermischen Kapazitäten genannt. Die Addition der MW-Werte ergibt deshalb für die einzelnen Länder andere Summen als in der obigen Tabelle. Identisch ist das Ergebnis lediglich bei den Strombrücken nach Großbritannien, da hier die Kopplung der Wechselstromnetze nicht direkt, sondern per Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ) erfolgt:

 

 

Insgesamt 32 Netzkupplungen verbinden Frankreich mit den Nachbarländern

 

Land / Station
Netzpartner von RTE
Kapazität in MW
Großbritannien
Mandarins – Sellingde
National Grid
2 x 1000
Spanien
Argia - Hernani
REE
1136
Errondenia - Irun
REE
56
Argia - Arkale
REE
340
Pragneres - Biescas
REE
237
Lac d'Oo - Benos
REE
63
Baixas - Vic
REE
1105
Italien
Albertville – Rondissone
Terna
2 x 1244
Trinite Victor –Camporosso
Terna
320
Villarodin – Venaus
Terna
956
Luciana – Suvereto
Terna
2 x 300
Bonifacio – Santa Teresa
Terna
53
Schweiz
Sierentz – Bassecourt
BKW
1186
Sierentz – Laufenburg
EGL Grid
1167
Mambelin – Bassecourt
BKW
1046
Bois-Tollot – Verbois
EOS
1211
Bosi-Tollot – Chamoson
EOS
1409
Genessiat – Verbois
EOS
2 x 315
Chancy-Pougny – Verbois
EOS
52
Vallorcine - La Batiaz
Atel
266
Cornier – Riddes
EGL Grid
275
Cornier – St. Triphon
EOS
275
Sierentz – Asphard
Atel/NOK/EnBW
1167
Deutschland
Vigy – Uchtelfangen
Amprion (RWE)
2 x 1790
St. Avoid – Ensdorf
Amprion (RWE)
261
Vogelgruen – Eichstetten
EnBW
338
Muhlbach – Eichstetten
EnBW
1751
Belgien
Chooz – Jamiolle
Elia
362
Mastaing – Avelgem
Elia
1207
Avelin – Avelgem
Elia
1367
Lonny – Achene
Elia
1207
Moulaine – Aunange
Elia
286
Quelle: France Country Report, Mai 2008 (IPA Energy + Water Consulting/COWI A/S/SGA Energy)

 

Die vier bzw. fünf direkten Kupplungen zwischen Deutschland und Frankreich verfügen somit über eine thermische Übertragungskapazität von knapp 6000 MW. Das ist mehr als das Doppelte des NTC-Wertes von 2600 MW. In der Praxis werden die Kapazitäten in beiden Richtungen genutzt, und das oft sehr unterschiedlich. Dabei muß wiederum zwischen den physischen Stromflüssen über die Kuppelstellen und den zwischen den Ländern gehandelten Strommengen unterschieden werden. Zum Beispiel hat Frankreich 2009 nach Angaben des französischen Netzbetreibers RTE insgesamt 19,1 Terawattstunden (TWh) aus Deutschland importiert und nur 7,2 TWh in der Gegenrichtung exportiert (101207). Entgegen dem Eindruck, den der unmittelbare physische Stromfluß über die deutsch-französische Grenze vermittelt (siehe Grafik und 080404), ist also der französische Stromhandel gegenüber Deutschland negativ.

Den Unterschied zwischen physischem Stromfluß und Stromhandel verdeutlicht auch die folgende Tabelle mit den entsprechenden Werten des Jahres 2006 für die sechs Strom-Nachbarn Frankreichs:

Nachbarland
Gehandelte Strommengen in TWh
Physischer Stromfluß in TWh
  
Import
Export
Import
Export
Spanien
2,3
6,6
1,479
5,91
Großbritannien
1,6
11,4
0,899
10,929
Belgien
1,7
17,2
1,981
10,644
Deutschland
15,1
9,5
0,838
16,172
Schweiz
6
26,5
2,156
11,322
Italien
1,4
18,7
0,726
14,891
Insgesamt
28,1
89,9
8,079
69,868
Quelle: France Country Report, Mai 2008 (IPA Energy + Water Consulting/COWI A/S/SGA Energy)

 

Engpässe zwischen Frankreich und Deutschland gibt es nur aus Sicht des Stromhandels

Die grenzüberschreitenden Verbindungen dienten ursprünglich nur der technischen Koordinierung des UCTE-Verbundnetzes und langfristig vereinbarten Stromlieferungen zwischen den Verbundpartnern. Die erstgenannte Aufgabe erfüllen sie auch heute noch hervorragend. Dies zeigte sich beispielsweise am 19. Oktober 2009, als das französische Netz dank der bestehenden Kupplungen mit Deutschland, Belgien und der Schweiz vor dem Zusammenbruch bewahrt wurde (091202). Die Belegung der Kuppel-Kapazitäten mit langfristigen Stromlieferungen wurde dagegen schon im vorigen Jahrzehnt abgebaut, um Platz für den kurzfristigen Stromhandel zu schaffen. Dies geschah unter massivem Druck aus Brüssel, denn der Stromhandel ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der sogenannten Liberalisierung, die seit Ende der neunziger Jahre in allen Mitgliedsländern die vormals staatlichen oder halbstaatlichen integrierten Stromversorger entflochten und weitgehend privatisiert hat.

Infolge dieser Liberalisierung müssen die Netze zunehmend einen kurzfristigen Stromhandel verkraften, für den sie eigentlich gar nicht angelegt sind. Besonders eng geht es an den grenzüberschreitenden Verbindungen zu. Ein unbeschränkter Stromhandel ist hier bis heute meistens nicht möglich. Auch an der neuen Epex Spot gibt es deshalb noch immer die drei Marktgebiete Deutschland/Österreich, Frankreich und Schweiz (091209). Die im Herbst 2010 vollzogene "Marktkopplung" zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten bedeutet nicht den völligen Wegfall von Beschränkungen beim grenzüberschreitenden Stromhandel, sondern bezweckt ein verbessertes Management dieser Beschränkungen (101103).

Der gegenwärtige Zustand an den Schnittstellen der europäischen Regelzonen ist deshalb für die Energiekonzerne und andere Stromhändler nicht befriedigend. Er gefährdet aber keineswegs die Versorgungssicherheit und stellt keinen technischen Mangel dar. Im Gegenteil: Der Stromhandel ist eine wichtige Ursache der zunehmenden Netzprobleme. Er untergräbt die verbrauchsnahe Stromerzeugung und nimmt Leitungskapazitäten in Anspruch, die dann nicht mehr für die originäre Aufgabe der Versorgung zur Verfügung stehen.

Besonders schlimm wird die Situation, wenn ein Land tatsächlich auf Stromhandel bzw. Importe angewiesen ist, um das Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot zu decken. In Italien kam es deshalb 2003 kurz hintereinander zu zwei flächendeckenden Stromausfällen (030901). Die vernünftige Konsequenz wäre die Erhöhung der italienischen Netzstabilität durch Ausbau des inländischen Kraftwerksparks gewesen. Die damalige EU-Kommissarin Loyola de Palacio nahm das Fiasko jedoch zum Anlaß, um den weiteren Ausbau der Importstrecken nach Italien sowie von sechs anderen transeuropäischen Verbindungen zu fordern (031010). Sie empfahl also den Stromhandel als Abhilfe gegen Probleme, die er überhaupt erst schafft.

Nach dieser Logik seiner Vor-Vorgängerin propagiert nun auch Oettinger die Ausweitung der bestehenden Kupplungen zwischen den EU-Staaten. Für die Versorgungssicherheit sind solche grenzüberschreitenden Stromhandels-Autobahnen nicht notwendig, sondern eher abträglich. Er bemüht deshalb gern die Vision vom nordafrikanischen Wüstenstrom, der über Spanien und Frankreich nach Deutschland geschafft werden müsse. Die politischen Risiken eines solchen Vorhabens ignoriert er dabei ebenso wie die enormen technischen und finanziellen Probleme. Die Vision vom Solarstrom aus der Sahara oder aus Andalusien ist ja auch zu schön: Nebenbei läßt sich so begründen, weshalb nationale Regelungen wie das Erneuerbare-Energien-Gesetz durch einen zentralen Topf in Brüssel ersetzt werden müssen...

Die Verbraucher haben auch sonst keinen Grund, den Bau von grenzüberschreitenden Stromautobahnen herbeizusehnen. Zum einen kostet der Ausbau viele Milliarden Euro, die ihnen entweder über den Strompreis oder über den EU-Haushalt aufgebürdet werden. Zum anderen werden ihre Stromrechnungen dadurch nicht sinken, sondern eher weiter steigen. Das ist jedenfalls aufgrund aller bisherigen Erfahrungen mit dem liberalisierten Strommarkt zu befürchten. Vor allem die Franzosen müssen sich auf Preissteigerungen gefaßt machen: Bisher werden sie von sämtlichen Nachbarn um ihre niedrigen Strompreise beneidet (101102). Das ändert sich aber garantiert, wenn Oettinger das Tor zum grenzüberschreitenden "freien Wettbewerb" aufgestoßen hat...

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