September 2013 |
130913 |
ENERGIE-CHRONIK |
Unter der Überschrift "Re-Rekommunalisierung: Erstmals verlorene Konzession zurückgewonnen" veröffentlichte der RWE-Konzern am 20. September eine Pressemitteilung, in der er die Wiedergewinnung der Stromkonzession für die 9500 Einwohner zählende Gemeinde Wehrheim als großen Erfolg darstellte. Der Text erweckte den Eindruck, als ob die RWE-Tochter Süwag die verlorene Konzession in einer Art sportlichem Schlagabtausch mit dem Konkurrenten Überlandwerk Groß-Gerau (ÜWG) und dank ihrer neuen Geschäftsstrategie zurückerobert habe, die "grüner und kommunaler" sei.
Der Erfolg in Wehrheim sei "ein sehr ermutigendes Signal für die vielen Fälle, in denen der Netzübergang nach Konzessionsverlust in der Schwebe ist", zitierte die Pressemitteilung den Leiter Kommunen und Konzessionen der RWE Deutschland AG, Christoph Marx. Die RWE-Tochter Süwag habe sich "nach kurzem Katzenjammer" über die verlorene Konzession "aufs Kämpfen verlegt", indem sie die Auseinandersetzung durch mehrere juristische Instanzen führte. Parallel dazu habe sie unter ihrem Chef Knut Zschiedrich ihre neue Strategie nach dem Motto "grüner und kommunaler" entwickelt und sei damit erfolgreich gewesen, denn "die steht nicht nur auf dem Papier, sondern wird gelebt – zum Beispiel mit neuen, flexiblen Konzessionsangeboten, mit der Bereitschaft, die Stromversorgung auf Wunsch auch in gemeinsamen Netzgesellschaften unter kommunaler Führung zu organisieren". Seitdem seien nur noch "knapp eine Handvoll" der über 350 Süwag-Konzessionen verlorengegangen und in 15 Fällen gemeinsame Netzgesellschaften entstanden.
Diese schmetternden Fanfaren überdecken allerdings eher Mißtönendes. Genau genommen hat der RWE-Konzern die Konzession auch gar nicht zurückgewonnen. Seine Tochter Süwag hat vielmehr den Konkurrenten ÜWG durch einen Rechtsstreit mürbe gemacht, bis er einem Kuhhandel zustimmte, der die mit der Konzession erworbenen Rechte faktisch wieder der Süwag überließ.
Aber der Reihe nach: Die Gemeinde Wehrheim hatte 2008 das Auslaufen des Konzessionsvertrags genutzt, um von der Süwag zum ÜWG zu wechseln. Zugleich sollte die hundertprozentige Tochter der Stadtwerke Mainz ab 2009 für fünf Jahre die Straßenbeleuchtung übernehmen. Den Ausschlag gab wohl, daß die Süwag wieder einen Konzessionsvertrag mit der maximal zulässigen Laufzeit von zwanzig Jahren verlangte, während ÜWG mit zehn Jahren zufrieden war. Hinzu lehnte es die Süwag ab, den Strom eines von der Gemeinde geplanten Blockheizkraftwerks zu vermarkten. Das ÜWG war dagegen sogar mit einem Konsortialvertrag einverstanden, der es der Gemeinde erlaubt hätte, gemeinsam mit Nachbarkommunen einer eigene Netzgesellschaft zu gründen.
Das ÜWG erlangte so mit dem vorteilhafteren Angebot die Konzession für das Stromnetz. Es konnte aber nie praktisch darüber verfügen, weil die Süwag die Übergabe des Netzes durch einen langwierigen Rechtsstreit blockierte. Das Landgericht Frankfurt vertrat im Mai 2010 die Ansicht, daß der 1987 mit der Lahmeyer AG für Energiewirtschaft in Bad Homburg – einer der Vorgängerinnen der Süwag – abgeschlossene Konzessionsvertrag nach wie vor uneingeschränkt gültig sei. Demnach könne die Gemeinde bzw. die von ihr beauftragte ÜWG nach Auslaufen des Vertrags lediglich die Überlassung solcher Anlagen verlangen, die "ausschließlich der Verteilung der elektrischen Energie im Gemeindegebiet" dienen. Der dafür zu zahlende Kaufpreis richte sich laut Vertrag nach dem "Schätzwert", den ein Gutachter zu ermitteln habe. Die Gemeinde könne außerdem nicht verlangen, daß ihr die Süwag den kalkulatorischen Restwert der Anlagen mitteile. Dieser Auskunftsanspruch stehe nur dem Gutachter zu. (Az. 3/12 O114/09)
In der Berufungsverhandlung korrigierte das Oberlandesgericht Frankfurt im Juni 2011 diese Entscheidung unter Berücksichtigung der neuen Rechtslage, die sich mit der Liberalisierung des Energiemarktes ergeben hat. Es erweiterte den Überlassungsanspruch des ÜWG auf solche Mittelspannungsleitungen, die durch das Gebiet der Gemeinde führen, aber nicht ausschließlich der örtlichen Versorgung, sondern auch der Stromversorgung von Nachbargemeinden dienen. Außerdem habe die Gemeinde Anspruch darauf, von der Süwag über die kalkulatorischen Restwerte und die genehmigten kalkulatorischen Nutzungsdauern informiert zu werden. Es stellte ferner fest, daß für den Kaufpreis normalerweise der durch den Ertragspreis begrenzte Sachzeitwert maßgebend sei. Das Gericht war aber wie die Vorinstanz der Auffassung, daß der vor 24 Jahren mit der Lahmeyer AG vereinbarte "Schätzpreis" und die Bestimmung von Schiedsgutachtern weiterhin gültig seien, weil sie der gesetzlich vorgeschriebenen "wirtschaftlich angemessenen Vergütung" nach § 46 Abs. 2 Satz 2 des Energiewirtschaftsgesetzes nicht entgegenstünden. Die ÜWG habe deshalb auch keinen Anspruch auf schrittweise Übereignung des Netzes gegen Zahlung des objektiven Ertragswertes. (Az.11 U 36/10 (Kart)).
Kurz nach Verkündung des Berufungsurteils wurde bekannt, daß RWE die Tochter Süwag auf die Verkaufsliste gesetzt hatte (110802). Das nährte neue Hoffnungen, schuf aber auch neue Unklarheiten. Im September 2011 brachte die Wehrheimer CDU im Gemeinderat den Antrag ein, die widerspenstige Süwag einfach im Bündnis mit anderen Kommunen des Hochtaunuskreises zu übernehmen. Der Vorschlag war wohl eine Nummer zu groß geraten. Aber es kam tatsächlich zur Bildung eines potenten Konsortiums aus Städten und kommunalen Versorgern der Länder Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg, das mit RWE über den Kauf der Süwag verhandelte. Diese Gespräche scheiterten im August 2012 an dem zu hohen Preis, den RWE verlangte (120815). Für die Gemeinde Wehrheim und ÜWG war damit klar, daß sie es in der Auseinandersetzung weiterhin nicht mit kommunalen Partnern, sondern mit dem RWE-Konzern zu tun haben würden.
Unter diesen Umständen wuchs beim ÜWG die Bereitschaft, irgendwie aus der Sackgasse herauszukommen. Und auch die Gemeinde Wehrheim wollte die jahrelange Hängepartie endlich beenden. So kam es zu folgender Lösung: Der Stromversorger behielt formal die bis 2018 befristete Konzession. Die Süwag gewährte ihm sogar einen Pachtvertrag für das Wehrheimer Stromnetz. Zugleich mußte er aber mit der Süwag einen zweiten Pachtvertrag schließen, mit der er dieser weiterhin den Betrieb des Stromnetzes überläßt. Die Gemeinde kündigte die mit ÜWG getroffenen Vereinbarungen. Stattdessen setzte der Wehrheimer Bürgermeister seine Unterschrift unter einen neuen Straßenbeleuchtungsvertrag mit der Süwag sowie einen Konsortialvertrag, der die Gründung eines gemeinsamen Unternehmens mit der Süwag ins Auge faßt.
"Mittlerweile hat sich bei der Süwag eine Menge verändert", soll der Bürgermeister bei dieser Gelegenheit erklärt haben, als sei die Abwendung vom ausgetricksten Konzessionsinhaber ÜWG darauf zurückzuführen. Laut RWE-Darstellung hat er zum Schluß sogar aktiv die Scheidung betrieben: "Die Kommune überzeugte ihren Vertragspartner, daß Süwag besser ist."