Oktober 2014

141001

ENERGIE-CHRONIK


 

 

Die Vattenfall-Klage steht schon deshalb auf wackligen Beinen, weil das Atomgesetz die Reststrommengen für die beiden Kernkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel keineswegs ersatzlos gestrichen hat, sondern ihre Übertragung auf andere Kernkraftwerke erlaubt. Wie diese Grafik erkennen läßt, verfügte E.ON bei Inkrafttreten der Neuregelung über genügend Spielraum, um die auf Krümmel und Brunsbüttel entfallenden 99.245 Gigawattstunden größtenteils abzuarbeiten. Davon entfallen 47.785 GWh ohnehin auf E.ON . Lediglich der Rest von 51.460 GWh gehört dem Betreiber und Miteigentümer Vattenfall. Für die Abarbeitung kämen ferner die EnBW-Reaktoren in Betracht, deren mögliche Erzeugung die vorhandene Reststrommenge übersteigt.

Vattenfall verlangt 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz für Atomausstieg

Der schwedische Energiekonzern Vattenfall verlangt von der Bundesregierung exakt 4.675.903.975,32 Euro zuzüglich Zinsen an Schadenersatz, weil durch die im Juni 2011 beschlossene Änderung des Atomgesetzes die sofortige Stillegung seiner Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel verfügt wurde (110601). Wie der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Linken, Klaus Ernst, am 16. Oktober mitteilte, hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) diese Zahl im Ausschuß für Wirtschaft und Energie "ausgeplappert" und damit der Geheimhaltung entzogen, die sonst grundsätzlich das ganze Verfahren umgibt, das Vattenfall vor dem ICSID-Schiedsgericht der Weltbank in Washington gegen die Bundesrepublik angestrengt hat.

Die Details des Schiedsgerichts-Verfahrens sind geheim

Bisher war im wesentlichen nur bekannt, daß Vattenfall diese Klage eingereicht hat (111103). Die ICSID-Internetseite beschränkt sich auf die Auskunft, daß das Verfahren seit 31. Mai 2012 unter dem Aktenzeichen ARB/12/12 geführt wird, das Thema "Atomkraftwerk" betrifft und ein dreiköpfiges Tribunal unter Vorsitz des Holländers Albert Jan van den Berg gebildet wurde. Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen im August 2012 weiß man ferner, daß die Bundesregierung den Briten Vaughan Lowe und Vattenfall den US-Amerikaner Charles N. Brower als Mitglieder des Schiedsgerichts benannt hat und welche Anwaltskanzleien die beiden Parteien vertreten. Die Details des Verfahrens sind selbst für Bundestagsabgeordnete nur in der Geheimschutzstelle des Parlaments einzusehen und dürfen nicht veröffentlicht werden. Die Bundesregierung begründet dies als Vorsichtsmaßnahme, um ihre Position in dem laufenden Verfahren nicht durch Indiskretionen zu gefährden.

Vattenfall stützt sich auf Artikel 13 und 26 der "Energie-Charta"

Rechtlich stützt sich das Verfahren auf den Vertrag über die Energie-Charta, der 1998 in Kraft trat und den sowohl Schweden als auch die Bundesrepublik ratifiziert haben. In Artikel 13 läßt er Enteignungen oder ähnlich wirkende Maßnahmen nur gegen eine Entschädigung zu, die dem "angemessenen Marktwert der enteigneten Investition" entspricht. In Artikel 26 regelt er ferner das Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen einem Investor und einer Vertragspartei. Im vorliegenden Fall ist demnach das ICSID-Schiedsgericht bei der Weltbank zuständig, da sowohl Deutschland als auch Schweden das ICSID-Abkommen unterzeichnet haben.

Indirekt ist auch E.ON mit von der Partie

Von einem Spruch des Schiedsgerichts würde möglicherweise auch der E.ON-Konzern profitieren, der in Deutschland beheimatet ist und dem deshalb kein solches Klagerecht zusteht. Da er an den Vattenfall-Kernkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel mit 50 bzw. 33 Prozent beteiligt ist, könnte er sich die von Vattenfall erfochtene Entschädigung anteilig auszahlen lassen. Nach Informationen aus Branchenkreisen sollen neben der schwedischen Regierung auch die Betreibergesellschaften der beiden Kernkraftwerke in das Verfahren einbezogen worden sein, damit auch E.ON profitieren kann.

Dieselbe Taktik wie beim Kraftwerk Moorburg

Der schwedische Konzern wiederholt damit eine Taktik, die er bereits im Streit um die Umweltschutzauflagen für das neue Steinkohlenkraftwerk Moorburg erfolgreich angewendet hat: Um den Hamburger Senat politisch unter Druck zu setzen, reichte er im April 2008 beim ICSID-Schiedsgericht eine Klage gegen die Bundesrepublik ein. Es kam in diesem Fall aber zu keiner Entscheidung, weil sich der neue Konzernchef Oeystein Loeseth und die Bundesregierung gütlich einigten (100812).

Nichtöffentliche Hinterzimmer-Tribunale untergraben nationale Rechtsprechung und Gesetzgebung

Rein formal läßt sich gegen die erneute Anrufung des Schiedsgerichts durch Vattenfall wenig einwenden. Die Schweden nutzen damit nur rechtliche Möglichkeiten, die ihnen eine unbedachte Politik eingeräumt hat. Für die Bundesregierung sollte dies aber zumindest Anlaß sein, im Zuge der aktuellen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA nicht in eine noch ärgere Falle zu tappen, indem sie nichtöffentlichen Hinterzimmer-Tribunalen zustimmt, welche die Souveränität der nationalen Rechtsprechung und Gesetzgeber zu Lasten der Steuerzahler aushebeln.

Schadenersatzansprüche sind schon rechnerisch völlig unhaltbar

Die Höhe des nunmehr bekanntgewordenen Schadenersatzanspruchs wirkt allerdings völlig überzogen, zumal die beiden Kernkraftwerke ausgesprochene Pannen-Reaktoren waren und bei ihrer endgültigen Abschaltung schon seit vier Jahren keinen Strom mehr lieferten (101202). Anscheinend hat Vattenfall die Laufzeiten-Verlängerungen zugrundegelegt, welche die schwarz-gelbe Regierung Ende 2010 durchsetzte (101214), um sich nur ein knappes Vierteljahr später wieder davon zu verabschieden (110302). Jedenfalls ergäbe sich pro entgangener Kilowattstunde eine Entschädigung von 8 Cent, wenn man die Forderung von 4,7 Milliarden Euro auf die normalen Restlaufzeiten umrechnet, wie sie vor und nach diesem Intermezzo auch für die beiden Vattenfall-Reaktoren galten bzw. wieder gelten. Das ist mehr als das Doppelte des aktuellen Großhandelspreises für Grundlaststrom – wobei die Großhandelspreise noch lange nicht mit entgangenen Gewinnen gleichgesetzt werden dürfen.

Eine ausreichende Entschädigung wird bereits durch das Atomgesetz ermöglicht

Das ist freilich noch der geringste Einwand gegen die Rechnung, die Vattenfall aufmacht. Gravierender ist, daß Vattenfall und E.ON gemeinsam einen tiefen Griff in die Taschen der deutschen Steuerzahler zu planen scheinen, der schon vom Ansatz her völlig unbegründet ist. Sie hätten nämlich keineswegs das internationale Schiedsgericht bemühen müssen, um sich für die Stillegung der Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel schadlos zu halten. Sie hätten nur den im Atomgesetz vorgesehenen Weg beschreiten müssen: Die Restmengen der sofort stillgelegten Kernkraftwerke sind dort keineswegs ersatzlos gestrichen worden. Sie durften und dürfen vielmehr nach § 7 Abs. 1b AtG auf andere Kernkraftwerke umgelegt werden, deren Laufzeit sich dadurch entsprechend verlängert.

E.ON könnte die Reststrommengen seines Geschäftspartners Vattenfall problemlos abarbeiten

Speziell für den E.ON-Konzern wurde das Zeitfenster bis zur endgültigen Stillegung aller seiner Kernkraftwerke so reichlich bemessen, daß er bei üblicher Jahresproduktion auch noch die Reststrommenge seines Geschäftspartners Vattenfall übernehmen und in den ihm verbleibenden Kernkraftwerken abarbeiten könnte (110601). Falls es zu einer solchen Reststrommengen-Übertragung kommen sollte – die selbstverständlich nicht kostenlos oder unter dem Marktwert erfolgen dürfte – , wären die Schadenersatzansprüche von Vattenfall gegenstandslos. Falls nicht, müßten sich sowohl Vattenfall als auch E.ON vorhalten lassen, den entstandenen wirtschaftlichen Schaden selber verursacht zu haben und ihn deshalb auch selber tragen zu müssen.

Allein die Verfahrenskosten dürften neun Millionen Euro betragen

Unabhängig davon hat das Vorgehen von Vattenfall den deutschen Steuerzahler schon jetzt viel Geld gekostet: Wie die "Süddeutsche Zeitung" (25.10.) berichtete, sind seit Beginn des Verfahrens allein für Rechtsanwälte, Gutachter und Dienstleistungen wie Übersetzungen mehr als 3,2 Millionen Euro an Kosten angefallen. Die bloße Inanspruchnahme des Schiedsgerichts ist dabei mit 200.000 Euro noch der kleinste Posten. Insgesamt rechne die Bundesregierung mit neun Millionen Euro, die allein an Verfahrenskosten anfallen werden.

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