November 2017

171103

ENERGIE-CHRONIK


 

Am 23. November protestierten rund 2500 Metallgewerkschafter in Berlin gegen den Arbeitsplatzabbau bei Siemens, darunter viele Beschäftigte der beiden Werke in Leipzig und Görlitz, die komplett geschlossen werden sollen.
Foto: IG Metall

Siemens will 6900 Stellen streichen – bei 6,2 Milliarden Euro Gewinn

Der Siemens-Konzern gab am 9. November ein hervorragendes Ergebnis für das Geschäftsjahr 2017 bekannt: Der Gewinn nach Steuern erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr um elf Prozent auf 6,2 Milliarden Euro. Die Dividende der Aktionäre steigt um 10 Cent auf 3,70 Euro pro Aktie. Nur eine Woche später folgte am 16. November die Bescherung für die Belegschaft: In den Geschäftsbereichen Power and Gas (PG), Power Generation Services (PS) und Process Industries and Drives (PD) sollen weltweit 6900 Stellen abgebaut werden, davon die Hälfte in Deutschland. Die Standorte Görlitz (rund 720 Beschäftige) und Leipzig (rund 200 Beschäftigte) sollen ganz geschlossen werden.

"Erneuerbare setzen andere Formen der Energieerzeugung zunehmend unter Druck"

Laut Pressemitteilung reagiert Siemens damit auf den "rasant zunehmenden Strukturwandel im Bereich der fossilen Stromerzeugung und im Rohstoffsektor". Mit einem Konsolidierungsplan für die genannten Geschäftsbereiche wolle man die Auslastung der Werke steigern, die Effizienz vorantreiben und "Kompetenzen durch die Bündelung von Ressourcen ausbauen".

"Die Energieerzeugungsbranche befindet sich in einem Umbruch, der in Umfang und Geschwindigkeit so noch nie dagewesen ist", erklärte die US-Managerin Lisa Davis, die im Siemens-Vorstand für "Power and Gas" zuständig ist. "Der Ausbau und die Innovationskraft Erneuerbarer Energien setzen andere Formen der Energieerzeugung zunehmend unter Druck. Die jetzigen Maßnahmen knüpfen an unsere Anstrengungen an, die wir bereits vor drei Jahren gestartet haben, um unser Geschäft an die sich verändernden Marktbedingungen anzupassen."

Schulz nennt das Vorgehen von Siemens "asozial"

Die Betroffenen und die Gewerkschaft IG Metall sehen das naturgemäß ein bißchen anders. Auch von amerikanischen Management-Methoden halten sie nicht viel: "Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht", hieß es auf einem Transparent, mit dem Siemens-Mitarbeiter am 21. November in Berlin demonstrierten. Als Quelle des Spruchs wurde "Werner von Siemens, 29. Dezember 1884" genannt.

Am 23. November nutzten die rund 600 Betriebsräte des Siemens-Konzerns ihr jährliches Treffen zu einem Autokorso durch Berlin. Anschließend demonstrierten rund 2500 Metallgewerkschafter gegen den Arbeitsplatzabbau. Zu den Demonstranten gesellte sich auch der SPD-Vorsitzende Martin Schulz und bezeichnete das Vorgehen von Siemens als "asozial".

Siemens-Chef Kaeser gibt den Ball an die Politik zurück

Tags zuvor hatte Schulz schon von "verantwortungslosen Managern" und "Manchester-Kapitalisten" gesprochen. Der Siemens-Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser fühlte deshalb sich und seine Manager "beschimpft" und konterte noch am selben Tag mit einem Offenen Brief an Schulz, in dem er von diesem wissen wollte, welche "Managementfehler" Siemens beim Energieerzeugungsgeschäft konkret gemacht habe. Im übrigen gab den Ball an die Politik zurück:

"Mit einer in der Sache richtigen aber in Ausführung und Timing höchst unglücklich umgesetzten Energiewende wurden dem Steuerzahler von der Bundesregierung Kosten in Höhe von über 400 Milliarden Euro aufgebürdet. Die vor allem in der Solarindustrie durch großzügige Subventionen geschaffenen Arbeitsplätze sind überdies weitgehend in China entstanden. Die Verweigerung von Risikodeckungen für Kohle- und Nukleargetriebene Dampfturbinen ist ein Wettbewerbsnachteil, mit dem unsere Hauptwettbewerber mit ihren Regierungen nicht zu kämpfen haben – wir schon. Vor allem, wenn es darum geht, unsere Fabriken auszulasten und Beschäftigung zu sichern."

Unter Anspielung auf die gescheiterten Verhandlungen über eine "Jamaika"-Koalition und die wiederholte Absage des SPD-Vorsitzenden an eine Neuauflage der Großen Koalition (171104) warf Kaeser ferner die Frage auf, "wer wirklich verantwortungslos handelt: Diejenigen, die absehbare Strukturprobleme proaktiv angehen und nach langfristigen Lösungen suchen, oder diejenigen, die sich der Verantwortung und dem Dialog entziehen." Diese Frage stelle sich ja gerade ganz aktuell, wobei es "nicht nur um die Belange einzelner Unternehmensteile bei Siemens, sondern um ein ganzes Land geht".

 


"Kahlschlag" versus "kreative Zerstörung"

Aktuelle Stunde des Bundestags zum Arbeitsplatzabbau bei Siemens

 

Auf Antrag der SPD debattierte am 21. November der Bundestag in einer Aktuellen Stunde über den Arbeitsplatzabbau bei Siemens. Erster Redner war der SPD-Vorsitzende Martin Schulz. Er zitierte aus der Siemens-Mitteilung und übersetzte sie so: "Man könnte auch sagen: Wir schmeißen die Leute raus, das steigert den Gewinn." Wenn der Siemens-Konzern bei gleichzeitigen Milliardengewinnen derart mit den Beschäftigten umgehe, zerschlage er Vertrauen und schade dem Wirtschaftsstandort Deutschland.

Union wendet sich gegen "Siemens-Bashing"

Der wirtschafts- und energiepolitische Sprecher der Unionsfraktion, Joachim Pfeiffer, wandte sich unter dem Beifall von Union und FDP gegen ein derartiges "Siemens-Bashing": Wenn Siemens mit Stellenstreichungen auf die Überkapazitäten bei der Turbinen-Produktion reagiere, handele es sich um eine "ureigene unternehmerische Entscheidung". Dem Arbeitsplatzverlust stehe "eine kreative Zerstörung im Schumpeter'schen Sinne *) gegenüber, durch die Neues erwächst, zum Beispiel neue Arbeitsplätze, auch bei Siemens". Im übrigen sei es politisch gewollt, wenn heute infolge des Ausbaues der Erneuerbaren in Europa kein einziges konventionelles Kraftwerk mehr im Bau sei.

"Kaeser verstieß gegen Radolfzell-II-Abkommen"

Dagegen kritisierte der ostdeutsche CDU-Abgeordnete Andreas G. Lämmel immerhin, daß keiner der Betriebsräte und Werksleiter von dem jetzt verkündeten "Kahlschlag" zuvor gewußt habe. Vor ein paar Jahren habe sich Siemens deutschlandweit für das sogenannte Radolfzell-II-Abkommen feiern lassen, demzufolge Werksschließungen und Entlassungen nur nach vorheriger Absprache mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft verkündet werden dürfen. Siemens-Chef Kaeser habe gegen diesen Beschäftigungspakt verstoßen und damit bei vielen Menschen die vorhandenen Zweifel an der "sozialen Marktwirtschaft" verstärkt.

Linke will Massenentlassungen bei profitabler Geschäftslage verhindern

Für die Linke zitierte Klaus Ernst aus der bayerischen Verfassung: "Die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls." So gesehen sei es "unsittlich", was der in Bayern ansässige Siemens-Konzern gerade treibe. Natürlich könne die Politik nicht die Geschäfte von Siemens machen. Sie könne aber zum Beispiel die rechtliche Möglichkeit einschränken, daß trotz Gewinnen Massenentlassungen und Werksschließungen durchgeführt werden.

Grüne verweisen auf volle Auftragsbücher in Görlitz

Der Grünen-Abgeordnete Stephan Kühn bezeichnete es als verantwortungslos, "daß Siemens im Windschatten der Regierungsbildung und parallel zur Verkündung von Rekordgewinnen einen Jobkahlschlag in Ostdeutschland plant". Das Görlitzer Siemens-Werk sei einer der letzten verbliebenen Leuchttürme in der industriell strukturschwachen Oberlausitz. Seine Auftragsbücher seien voll. Es fertige auch keine Gasturbinen, sondern Industriedampfturbinen, wie sie in Biomasseanlagen und solarthermischen Kraftwerken zum Einsatz kommen und in Zukunft eine wichtige Rolle spielen würden.

Sogar die FDP will Siemens nicht rundum in Schutz nehmen

Der aus der Lausitz stammende FDP-Abgeordnete Torsten Herbst billigte Siemens wie anderen Unternehmen grundsätzlich zu, "unternehmerische Entscheidungen zu treffen, um wettbewerbsfähig zu bleiben". Siemens sei aber kein kleiner Mittelständler und stehe finanziell auch nicht mit dem Rücken zur Wand. Deshalb müsse er schon hinterfragen, weshalb "die angeblich zu hohen Kosten gerade an den Standorten im Osten – in Erfurt, in Leipzig, in Görlitz, in Berlin – entscheidend dafür sein sollen, Werke zu schließen oder Produktionen zu verlagern". Siemens werde hier seiner Verantwortung nicht gerecht.

AfD hält Klimaschutz und Energiewende für "Irrsinn"

Der Abgeordnete Tino Chrupalla von der rechtspopulistischen AfD nutzte seine Erstlingsrede zu einem Rundumschlag gegen Klimaschutzpolitik und Energiewende: Alle anderen Parteien hätten sich "der Klimaschutzideologie verschrieben und ohne Rücksicht auf Verluste die Energiewende durchgedrückt". Das habe die Heimatmärkte von Siemens für Kernenergie und Kraftwerke komplett zerstört. Vor allem die SPD habe diesen "Irrsinn" gefördert.

 

*) Der Begriff "creative destruction" entstammt dem Werk "Capitalism, Socialism and Democracy", das der gebürtige Österreicher Joseph Alois Schumpeter 1942 in den USA veröffentlichte. Seine korrekte und sonst auch übliche Übersetzung ins Deutsche lautet "schöpferische Zerstörung". Ideengeschichtlich geht diese Denkfigur auf Karl Marx zurück, von dem sie über Werner Sombart zu Schumpeter gelangte. In neoliberalen Kreisen erfreut sich allerdings nur Schumpeters Variante großer Verbreitung und Wertschätzung, weil sie als Apologie eines entfesselten Kapitalismus verstanden werden kann.

 

Links (intern)