Oktober 2018

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ENERGIE-CHRONIK


 

Die sieben Reaktoren der belgischen Kernkraftwerke Tihange (links an der Maas) und Doel (rechts an der Schelde) stehen in den Wintermonaten wegen dringender Reparaturen und Wartungsarbeiten weitgehend nicht zur Verfügung. In der ersten November-Hälfte wird sogar nur Doel 3 in Betrieb sein.
Fotos (2): Electrabel

Belgien bittet Nachbarn um Hilfe wegen Strommangels

Belgien droht in den kommenden Monaten ein Strommangel, der zu einem Zusammenbruch des Netzes führen könnte. Die Regierung hat deshalb die Nachbarländer Deutschland, Frankreich, Niederlande und Luxemburg um Hilfe gebeten. Die wichtigste Unterstützung bekam sie aus Deutschland zugesagt: Am 16. Oktober unterzeichneten die belgische Energieministerin Marie-Christine Marghem und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in Berlin eine Absichtserklärung, der zufolge die deutsche Regierung ihren Einfluss geltend machen wird, damit in Deutschland erzeugter Strom die in Belgien auftretenden Defizite kompensieren kann.

Deutschland wird notfalls "vereinbarte spezifische Maßnahmen" durchführen

Das vierseitige Papier enthält insgesamt sechs Punkte zur Zusammenarbeit auf energiewirtschaftlichem Gebiet. Die Stromhilfe, derentwegen die belgische Energieministerin nach Berlin geeilt war, ist dabei eher beiläufig im Unterpunkt "Versorgungssicherheit" zum Sektor "Elektrizität" enthalten. Der wichtigste, in zähflüssigem Diplomaten-Englisch formulierte Satz lautet: " For the upcoming winter 2018/2019, both Sides will do their utmost and will apply agreed specific measures in order to address the Belgium short term generation adequacy concern based on the already agreed measures from the 'Operational framework for solidarity to ensure electricity adequacy in Belgium for the winter 2018-2019' which is currently being finalized in cooperation with the other Member States of the Pentalateral energy forum including by increasing Belgium’s import capacity within the CWE Flow-based market coupling mechanism."

Ringflüsse sollen ausgebremst werden, damit der Strom in Belgien verbraucht werden kann


Die Minister Altmaier und Marghem nach Unterzeichnung der gemeinsamen Erklärung.
Foto: BMWi/Susanne Eriksson

Die deutsche Zusage zur Durchführung von "vereinbarten spezifischen Maßnahmen" klingt zunächst ziemlich rätselhaft, da es bislang keine direkte Verbindung zwischen den Übertragungnetzen Deutschlands und Belgiens gibt und die Bundesregierung über keine eigenen Kraftwerke verfügt. Beides ist aber auch gar nicht nötig. Es genügt der Einfluss, den die Bundesregierung auf die in Bonn ansässige Bundesnetzagentur hat, deren Anweisungen wiederum die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber befolgen müssen. Denn es geht letztendlich nur darum, jene "Ringflüsse" bzw. vagabundierenden Ströme umzulenken, die bisher über die Niederlande, Belgien und Frankreich vom Norden nach dem Süden Deutschlands gelangen. Der Strom aus Deutschland ist gewissermaßen in Belgien schon vorhanden. Es muss nur noch dafür gesorgt werden, das er dort auch bleibt und verbraucht werden kann.

Der Kern der Vereinbarung besteht deshalb darin, dass die auf deutscher Seite zuständigen Übertragungsnetzbetreiber im Notfall alle in Süddeutschland verfügbaren Kraftwerken hochfahren oder zusätzliche Kapazitäten mobilisieren, damit die Ringflüsse über Belgien minimiert werden. Der Strom aus Norddeutschland kann dann in Belgien verbraucht werden, anstatt dort das Netz zu verstopfen. Die Niederlande und Frankreich haben ihre Mitwirkung zugesagt, damit an den Kuppelstellen mit dem belgischen Netz ausreichend Kapazitäten für Stromimporte vorhanden sind.

Bis Ende September wussten weder Regierung noch Elia von dem drohenden Versorgungs-Engpass

Der Strom-Engpass hat die belgische Regierung ebenso überrascht wie den staatlichen Übertragungsnetzbetreiber Elia. Der französische Energiekonzern Engie (vormals GDF Suez), der über seine hundertprozentige Tochter Engie Electrabel die belgischen Kernkraftwerke betreibt, hat nämlich erst Ende September darauf hingewiesen, dass die sieben Reaktoren in den nächsten Monaten größtenteils nicht zur Verfügung stehen werden. Zu diesem Zeitpunkt waren nur noch Doel 3 und Tihange 1 am Netz, weil alle anderen Reaktoren wegen dringender Reparatur- oder Wartungsarbeiten nicht zur Verfügung standen. Ab dem 20. Oktober entfiel dann auch noch der Reaktor Tihange 1, weil er mit neuen Brennelementen bestückt werden musste, was mindestens bis zum 17. November dauern wird. Außerdem war seit 19. Oktober klar, dass die Reparaturarbeiten an Tihange 2 und Tihange 3 wohl erst bis Ende Mai bzw. Ende März nächsten Jahres abgeschlossen werden können. Unsicher blieb zudem, ob Doel 1, 2 und 4 tatsächlich bis zum Jahresende wieder am Netz sind.

Bunker wären Flugzeugabsturz nicht mehr gewachsen

Die notwendigen Reparaturen betreffen nicht die konstruktionsbedingten Risse in den Reaktorbehältern, die seit langem Anlass zu internationaler Besorgnis sind (170608, 160214). Es geht vielmehr um den schadhaften Beton der Bunker, die an das Reaktorgebäude angrenzen. Neben wichtigen Systemen wie Notfallpumpen und Dieselgeneratoren enthalten sie die Auslassdüsen der Dampfablassventile. Zunächst war vor zwei Jahren bei der Wartung von Doel 3 festgestellt worden, dass der hohe Dampfdruck die Betondecken dieser Bunker so verschlechtert hat, dass sie einem Flugzeugabsturz bzw. einem vergleichbaren Terroranschlag (160316) nicht mehr widerstehen könnten. Doel 3 ist inzwischen wieder in Betrieb, aber bei Doel 4 sowie Tihange 2 und 3 ergaben sich ähnliche Befunde.

Belgien muss Stromspitzen auch normalerweise mit Importen abdecken

Infolge der notwendigen Reparaturen verlängerten sich die Stillstände der Reaktoren, die der Betreiber Engie in Abstimmung mit der Atomaufsicht beschloss. Am Ende erwies sich so plötzlich die Stromversorgung Belgiens ab November als akut gefährdet. In den zurückliegenden fünf November-Monaten hatte die Abdeckung des Bedarfs eine Leistung von bis zu 12.508 MW erfordert. Das Land ist bei Stromspitzen ohnehin auf Importe angewiesen, weil ihm an eigenen Erzeugungskapazitäten allenfalls etwas mehr als 9.000 MW zur Verfügung stehen. Ein Bedarf von maximal 3.240 MW musste deshalb nun mit Importen über die Kuppelstellen mit dem niederländischen und französischen Netz gedeckt werden können.

Lücke ist nicht so groß wie anfänglich befürchtet

Am 26. September ging der Übertragungsnetzbetreiber Elia zunächst von 1.600 bis 1.700 MW aus, die zusätzlich benötigt würden, um die Versorgungssicherheit in diesem Winter zu gewährleisten. Der belgische Premier Chalets Michel telefonierte daraufhin mit der deutschen Bundeskanzlerin und vereinbarte mit ihr die deutsche Unterstützung, die am 16. Oktober von den Energieministern beider Länder in ihrer gemeinsamen Absichtserklärung schriftlich fixiert wurde. Sechs Tage später veranschlagte Elia den maximalen zusätzlichen Leistungsbedarf auf nur noch 700 bis 900 MW: Eine zusätzliche Analyse des französischen Netzbetreibers RTE habe ergeben, dass Frankreich mehr Energie für Belgien bereitstellen könne. Zudem habe sich die Lage durch das Vorziehen der Arbeiten am Reaktor Tihange 1 entspannt, der ursprünglich bis Ende November abgeschaltet bleiben sollte. Damit sei die Gefahr von Zwangsabschaltungen deutlich geringer geworden. Der Netzbetreiber forderte aber dennoch die Regierung und andere Beteiligte auf, weiterhin nach Wegen zur Bereitstellung zusätzlicher Kapazitäten zu suchen.

Direkte Drehstrom-Übertragung über Luxemburg ist trotz vorhandener Leitungen nicht möglich

Als nutzlos erwies sich bei dieser Suche die von Deutschland über den luxemburgischen Netzknoten Schifflange nach Aubange führende Höchstspannungsleitung. Grundsätzlich ließen sich mit ihr 200 MW von Deutschland nach Belgien übertragen. Nach Angaben der belgischen Energieministerin scheitert dies aber an "physikalischen Prinzipien". Die 220-kV-Verbindung wurde von den Netzbetreibern Elia, Creos und Amprion seit 2016 ausgebaut und in Schifflange mit einem Phasenschieber-Transformator ausgerüstet. Damit sollte zum einen die Versorgungssicherheit des nach Deutschland orientierten luxemburgischen Netzes durch Anbindung an Belgien erhöht werden. Zum anderen wollte man zwischen den unterschiedlichen Stromhandelszonen, denen Luxemburg und Belgien angehören, eine Marktkopplung im vortägigen Handel ermöglichen. In der Praxis sind die Erwartungen aber zum großen Teil enttäuscht worden. Zumindest war der Aufwand höher als der Nutzen. Unterschätzte netztechnische Probleme scheinen nun auch der Grund zu sein, weshalb sich die Leitung nicht für belgische Stromimporte aus Deutschland verwenden läßt.

 

Die erste Direktverbindung zwischen dem deutschen und dem belgischen Netz wird in HGÜ-Technik ausgeführt, um die übertragenen Strommengen in beiden Richtungen genau steuern zu können. Bei einer Drehstrom-Verbindung wäre das nicht möglich.
Grafik: Elia

HGÜ-Verbindung mit Belgien soll bis 2020 fertig sein

Das Projekt eines HGÜ-Erdkabels, das erstmals eine direkte und zudem noch genau steuerbare Verbindung zwischen dem deutschen und dem belgischen Stromnetz herstellt (161012), kommt dagegen inzwischen voran. Am 30. Oktober vollführten der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet und der Aachener Oberbürgermeister Marcel Philipp den ersten Spatenstich für den Bau des 41 Kilometer langen Abschnitts vom Umspannwerk Oberzier bis zur Grenze, für den der deutsche Übertragungsnetzbetreiber Amprion verantwortlich ist. Zuvor hatte die Bezirksregierung Köln am 17. Oktober das Planfeststellungsverfahren abgeschlossen und die Genehmigung erteilt. Das Gesamtprojekt soll bis 2020 fertiggestellt sein.

Auf der anderen Seite der Grenze baut der belgische Übertragungsnetzbetreiber Elia schon seit Anfang des Jahres am restlichen Teil des HGÜ-Kabels, das über insgesamt 90 Kilometer zum Umspannwerk Lixhe nördlich von Lüttich führt und dabei in einem Tunnel die Maas unterquert. An beiden Endpunkten werden Konverterstationen errichtet, die das Gleichstrom-Erdkabel mit den Drehstrom-Netzen beider Länder verbinden. Durch die HGÜ-Technik wird es möglich, die Leitungskapazität von 1000 Megawatt für einen exakt kalkulierten Stromaustausch zu nutzen. Bei einer direkten Verbindung der beiden Drehstrom-Netze ginge das nicht, da dann die Ringflüsse aus dem überlasteten deutschen Netz, die derzeit über die Niederlande, Belgien und Frankreich abfließen, ihren Weg auch über die neue Leitung nehmen würden.

Abschaltung sämtlicher Reaktoren würde weitere grenzüberschreitende Leitung erfordern

Das Projekt namens ALEGrO ("Aachen Liège Electricity Grid Overlay") dient somit vor allem dem Stromhandel und soll die Überlastung des belgischen Netzes mildern, die durch die Ringflüsse zwischen Nord- und Süddeutschland verursacht wird. Es steht auf der Liste der "Projects oft Common Interest" (PCI), die 2013 von der EU vorgelegt wurde (131003). Nach der Verschiebung des belgischen Atomausstiegs (160104) wurde aber auch zunehmend argumentiert, dass die HGÜ-Verbindung nützlich und notwendig sei, um die Abschaltung der beiden unsichersten belgischen Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 (170608) zu ermöglichen. Anfang 2017 legte die damalige rot-grüne Landesregierung Nordrhein-Westfalens ein Gutachten vor, wonach es die neue Leitung ermöglichen würde, eine dauerhafte Stilllegung dieser beiden Reaktoren mit Stromlieferungen aus Deutschland zu kompensieren. Beim Bau einer zweiten grenzüberschreitenden Leitung könne sogar die Leistung aller sieben Druckwasserreaktoren ersetzt werden, die in Doel und Tihange noch in Betrieb sind.

 

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