Juli 2021 |
210702 |
ENERGIE-CHRONIK |
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Die Corona-Pandemie sorgte 2020 für einen unerwarteten Rückgang des Bruttostromverbrauchs. Voraussichtlich wird das auch in diesem Jahr noch der Fall sein. Längerfristig ist aber eine erhebliche Zunahme des Stromverbrauchs zu erwarten. Der Grund dafür sind Millionen von Elektroautos und Wärmepumpen, ein immenser Bedarf an grünem Wasserstoff und andere stromhungrige Sektoren wie die elektronische Datenverarbeitung. Da werden die 580 Terawattstunden nicht ausreichen, von denen die Bundesregierung im EEG 2021 ausging, damit sie den bis 2030 geplanten Anteil der Erneuerbaren am Stromverbrauch möglichst hoch ansetzen konne. Realistischer ist die Prognose von Olaf Scholz, der für das Jahr 2030 einen Mehrbedarf von rund hundert Terawattstunden erwartet. Der Anteil der Erneuerbaren am Stromverbrauch, den sich die Bundesregierung bisher mit 65 Prozent schönrechnet, würde dadurch auf 55 Prozent schrumpfen. |
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat seine unrealistische Prognose zum deutschen Stromverbrauch korrigiert, die er im September vorigen Jahres der Neufassung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes zugrunde legte: Er ging damals davon aus, dass der bisherige Bruttostromverbrauch von jährlich etwa 580 Terawattstunden auch für das Jahr 2030 unterstellt werden könne, weil ein eventueller Mehrbedarf duch höhere Energieffizienz kompensiert werde (200901). Inzwischen sieht er ein, dass sich unterm Strich zumindest ein Mehrbedarf in Höhe von etwa 75 Terawattstunden ergeben dürfte. Allerdings tut er nun so, als ob das nicht schon damals klar gewesen wäre, sondern sich erst durch neuere Entwicklungen ergeben hätte.
Am 13. Juli veröffentlichte das Bundeswirtschaftsministerium eine
Pressemitteilung, wonach Altmaier "heute eine erste Neuschätzung des
Stromverbrauchs 2030 vorgelegt" habe. Der Minister wird dann
folgendermaßen zitiert: "Die Neufassung des Klimaschutzgesetzes und unsere
neuen ambitionierten Klimaziele, die Bundestag und Bundesrat Ende Juni
2021 verabschiedet haben, erfordern eine Anpassung unserer Analysen zum
Stromverbrauch 2030." Im Auftrag des Ministeriums habe die Prognos AG ein
Gutachten erstellt, das den Stromverbrauch für 2030 auf 645 bis 665
Terawattstunden veranschlage, woraus sich ein Mittelwert von 655
Terawattstunden ergebe. Die Gutachter gingen unter anderem davon aus, dass
es bis dahin 14 Millionen Elektro-Pkw und 6 Millionen Wärmepumpen geben
werde und und 30 Terawattstunden Strom für grünen Wasserstoff benötigt
würden. Eine ausführlichere Analyse folge im Herbst 2021.
Nach dem Krieg nahm der Stromverbrauch der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland rasant zu. Schon Mitte der fünfziger Jahre war er höher als im weit größeren Vorkriegsdeutschland. Von 1950 bis 1960 stieg er fast um das Dreifache, im folgenden Jahrzehnt um mehr als das Doppelte. Einige Schlaumeier glaubten daraus bereits ableiten zu können, dass sich der Strombedarf auch weiterhin alle zehn Jahre verdoppeln werde. Das war aber eine sehr voreilige Schlußfolgerung: Ab den siebziger Jahren schrumpften die prozentualen Zuwächse erst auf zwei- und dann auf einstellige Prozentwerte. Im jüngst verflossenen Jahrzehnt war sogar ein Rückgang um 9,5 Prozent zu verzeichnen, zu dem die Corona-Pandemie beigetragen hat (siehe Grafik 1). Indessen muss man sich auch jetzt vor verfrühten Schlußfolgerungen hüten und darf nicht einfach statistische Trends in die Zukunft projizieren, wie das die Bundesregierung getan hat, als sie von einer zehnjährigen Stabilisierung des Stromverbrauchs auf dem Niveau des Jahres 2019 ausging. Die auf Strom gegründete "Sektorenkopplung" hat gerade erst begonnen und wird durch verschärfte Klimaschutzziele vorangetrieben (181105, 190402, 200106, 200705). Der Stromverbrauch wird deshalb in den kommenden Jahrzehnen sicher nicht stagnieren, sondern kräftig zunehmen. |
Das teure Gutachten hätte sich Altmaier allerdings sparen können. Es waren auch keineswegs die Ende Juni beschlossenen Nachbesserungen am Klimaschutzgesetz (210602), die seine frühere Annahmen zum Stromverbrauch in den Papierkorb beförderten. Vielmehr lagen schon lange vor der Verabschiedung des EEG 2021 anderslautende Untersuchungsergebnisse vor. So hatte das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln (EWI) für das Jahr 2030 sogar einen Stromverbrauch von 748 Terawattstunden prognostiziert. Daraus ergab sich ein Erneuerbaren-Anteil von lediglich 46 statt 65 Prozent. Auch die Prognosen der Übertragungsnetzbetreiber im Rahmen ihres Szenarios von 2021 bis 2035 ließen für das Jahr 2030 einen deutlich höheren Stromverbrauch erwarten. Die Grünen im Bundestag wollte deshalb schon im März 2020 in einer Kleinen Anfrage wissen, ob die Bundesregierung tatsächlich weiterhin davon ausgehe, "dass der Bruttostromverbrauch 2030 leicht unter dem Verbrauch in 2018 liegen wird, also bei rund 590 Terawattstunden". Die Bundesregierung bejahte diese Frage ohne Abstriche. Nebenbei stellte sie klar, dass sie sogar von nur 580 Terawattstunden ausgehe.
Diese regierungsamtliche Tiefstapelei kam nicht von ungefähr: Sie hatte hauptsächlich damit zu tun, dass die in § 1 Abs. 2 des EEG 2021 verankerte Zielsetzung, den Anteil der Erneuerbaren am deutschen Stromverbrauch bis 2030 auf 65 Prozent zu erhöhen, mit den im selben Gesetz vorgesehenen Ausbaumaßnahmen gar nicht zu erreichen ist. Anstatt den Zubau an Windkraft, Photovoltaik und anderen erneuerbaren Stromquellen dem tatsächlich zu erwartenden Bedarf anzupassen, beschritten deshalb die Verfasser des Gesetzentwurfs den umgekehrten Weg und korrigierten den voraussichtlichen Bedarf so kräftig nach unten, dass die Rechnung scheinbar doch noch aufging.
"Für die Erreichung des 65-Prozent-Ziels wird ein Bruttostromverbrauch im Jahr 2030 in Höhe von 580 TWh angenommen und daraus eine Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien von 377 TWh abgeleitet", hiess es in der regierungsamtlichen Begründung des EEG 2021. Wegen der weiteren Anstrengungen zur Energieeffizienz einerseits und den neu hinzukommenden Stromverbraucher im Zuge der Sektorkopplung andererseits gebe es freilich "Prognoseunsicherheiten", die es erforderlich machen würden, die Prognose des Bruttostromverbrauchs regelmäßig zu evaluieren und gegebenenfalls anzupassen.
Damit hielt sich Altmaier vorsorglich eine Hintertür offen, um von seiner unrealistischen Prognose wieder abrücken zu können, sobald dies politisch notwendig oder opportun sein sollte. Dieser Moment kam indessen schneller als erwartet: Im Zeichen des beginnenden Bundestagswahlkampfs distanzierte sich am 22. Juni der Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz von der rechnerischen Trickserei seines Kabinettskollegen, indem er Altmaier explizit eine "Stromlüge" vorwarf: "Wer behauptet, dass der Stromverbrauch bis 2030 gleichbleibt, belügt sich selbst - und das Land", erklärte Scholz beim "Tag der Industrie" in Berlin. Tatsächlich müsse von einem massiven Anstieg des Strombedarfs um ungefähr hundert Terawattstunden ausgegangen werden, vor allem durch Elektroautos, Wärmepumpen und industrielle Prozesse. Dies bedeute, dass der Bedarf bis 2030 Jahr für Jahr jeweils um den gesamten jährlichen Stromverbrauch einer Millionenstadt wie Hamburg zunehmen werde. Wenn das Wirtschaftsministerium die Realität nicht zur Kenntnis nehme, habe dies entsprechende Folgen: Die Ausbauplanungen stimmten weder für die Stromerzeugung noch für die Stromtrassen.
Diesen Vorwurf eines prominenten Mitglieds der Bundesregierung konnte Altmaier nicht einfach an sich abperlen lassen. Vielmehr ging es nun darum, die Lunte an dem Wahlkampf-Sprengsatz "Stromlüge" so schnell wie möglich wieder auszutreten. Zwanzig Tage später veröffentlichte er seine "erste Neuschätzung des Stromverbrauchs 2030".