August 2024 |
240801 |
ENERGIE-CHRONIK |
Dem "Wall Street Journal" zufolge – hier die am 14. August erschienene Internet-Version des Artikels – entstand die Idee zur Sprengung der Ostsee-Pipelines auch unter dem Einfluss von ziemlich viel Alkohol. Umgesetzt wurde sie sie dann aber nüchtern und zielstrebig, obwohl der ukrainische Präsident Selenskij den Anschlag noch zu verhindern versuchte, nachdem die USA interveniert hatten. |
Im August ergaben sich neue Hinweise auf die Täter, die am 26. September 2022 die Sprengstoffanschläge auf die beiden Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 verübten. Und zwar verdichteten sich die bereits im März 2023 bekanntgewordenen Verdachtsmomente gegen eine Gruppe aus fünf Männern und einer Frau, die am 6. September mit der Segeljacht "Andromeda" den Hafen Rostock verlassen hatten und nach einer 18 Tage dauernden Tour über die Ostsee am 23. September dorthin zurückgekehrt war (230309). Eine ihrer Zwischenstationen war Mitte September die dänische Insel Bornholm, in deren Umgebung zehn Tage später die insgesamt vier Sprengsätze an den beiden Gasleitungen explodierten (siehe Grafik).
Am 26. September 2022 um 2.03 Uhr zerstörte südöstlich von Bornholm eine Explosion zunächst den Strang A der neuen – noch nicht in Betrieb genommenen - Pipeline Nord Stream 2. Exakt sieben Stunden später folgten in etwa 80 Kilometer Entfernung, wo die Ausschließlichen Wirtschaftszonen von Dänemark und Schweden aufeinander treffen, drei weitere Explosionen. Diese unterbrachen auch beide Stränge von Nord Stream 1 und fügten dem Strang A von Nord Stream 2 ein weiteres Loch hinzu. Grafik: Wikipedia
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Inzwischen gilt es als ziemlich sicher, dass diese Sprengsätze in einer Wassertiefe von siebzig bis achtzig Meter von zwei ausgebildeten Tauchern angebracht wurden, die zur Besatzung der "Andromeda" gehörten. So veröffentlichte die "Washington Post" bereits am 6. Juni 2023 einen Bericht, der sich auf die sogenannten "Discord-Leaks" stützte, durch die geheimdienstliche Berichte an die Öffentlichkeit gelangt waren. Demnach erfuhr der US-Geheimdienst CIA bereits im Juni 2022 durch einen "europäischen Geheimdienst" – gemeint war wohl der Militärgeheimdienst der Niederlande – , dass eine sechsköpfige ukrainische Spezialeinheit einen Anschlag auf die Pipeline Nord Stream 1 plane, über die damals noch Gas aus Russland nach Deutschland gelangte. Die Ukrainer hätten zunächst beabsichtigt, die Pipeline im Anschluss an das NATO-Manöver BALTOPS zu sprengen, das seit 1971 jährlich in der Ostsee stattfindet und vom 5. bis 17. Juni 2022 terminiert war. Dann sei die Aktion aber aus noch unklaren Gründen vorerst auf Eis gelegt worden.
Aus ähnlichen Quellen schöpfte nun das "Wall Street Journal", als es am 14. August einen ziemlich bunten Bericht über "The Real Story of the Nord Stream Pipeline Sabotage" veröffentlichte, der auf Informationen aus ukrainischen Militärkreisen beruhen soll. Demnach kam der Plan zur Sprengung der Ostsee-Pipelines im Mai 2022 zustande, nachdem es der Ukraine gelungen war, den russischen Vormarsch zu stoppen. Es habe sich aber nicht um einen generalstabsmäßig entworfenen Plan gehandelt, sondern eher um eine Art Husarenstreich, dessen Idee bei einem feuchtfröhlichen Beisammensein von patriotisch gesinnten Ukrainern aus dem zivilen und militärischen Bereich entstand und mit einiger Verzögerung schließlich auch umgesetzt wurde.
"Ich muss immer lachen, wenn ich in Medien Spekulationen über eine große Operation lese, an der Geheimdienste, U-Boote und Satelliten beteiligt gewesen seien", wird in dem Artikel ein ukrainischer Offizier zitiert. "Das Ganze ist in einer durchzechten Nacht entstanden und durch die eiserne Entschlossenheit einer kleinen Gruppe von Leuten , die den Mut hatten, ihr Leben für ihr Land aufs Spiel zu setzen."
Zu den beiden Tauchern auf der "Andromeda" gehörte Wolodymyr Z., der vom Generalbundesanwalt per Europäischem Haftbefehl gesucht wird, aber dennoch in Polen ungehindert die EU verlassen konnte. Foto: RBB/Kontraste
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Die aus nur sechs Personen bestehende kleine Kerngruppe sei von hochrangigen ukrainischen Offizieren und Unternehmern unterstützt worden, die auch die Kosten finanzierten, die lediglich 300.000 US-Dollar betragen hätten. Leiter der Aktion sei der damalige ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj gewesen. Der Präsident Wolodymyr Selenskyj sei ebenfalls informiert gewesen und habe die geplante Aktion zunächst gebilligt. Als die vom CIA informierte US-Regierung intervenierte, habe er sie dann jedoch stoppen wollen. Indessen sei er am Widerstand Saluschnyjs gescheitert, der gesagt haben soll: "Es ist wie mit einem Torpedo – wenn du ihn einmal auf einen Feind abgefeuert hast, kannst du ihn nicht mehr zurückholen."
Saluschnyj ist inzwischen ukrainischer Botschafter in London. Auf Nachfrage des "Wall Street Journal" bestritt er nicht nur die zitierte Äußerung, sondern überhaupt jede Kenntnis von der Aktion, die unter seiner Leitung entstanden sein soll. Gegenteilige Behauptungen betrachte er als "Provokation".
Als im März vorigen Jahres die mysteriöse Ostsee-Tour der "Andromeda" bekannt wurde, vermuteteten US-Geheimdienste schon damals hinter dem Sextett eine pro-ukrainische Gruppe, die mit oder ohne Wissen der Regierung in Kiew die Anschläge ausgeführt haben könnte. Dass in der Kabine Spuren von Sprengstoff gefunden wurden und das Schiff ungereinigt zurückgegeben wurde, konnte allerdings auch als Indiz dafür gelten, dass hier womöglich eine falsche Spur gelegt werden sollte. Vor allem waren der Transport, das Versenken und die Anbringung erheblicher Mengen Sprengstoff in einer Tiefe bis zu 80 Meter nicht so einfach zu bewerkstelligen. Dass eine derart kleine Gruppe mit so geringem Aufwand eine erfolgreiche Sabotage-Aktion durchführen konnte, schien deshalb unwahrscheinlich zu sein. So etwas traute man allenfalls "staatlichen Akteuren" bzw. deren Geheimdiensten zu. Der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow empfand deshalb die Berichte über eine Beteiligung seines Landes an der Ostsee-Tour der "Andromeda" ganz unverhohlen "wie ein Kompliment für unsere Spezialkräfte", bestritt aber zugleich entschieden jede Beteiligung.
Seltsamerweise verzichtete auch die russische Propaganda darauf, die Ukraine mit den Sprengstoffanschlägen in Verbindung zu bringen. Stattdessen unterstellte der Putin-Sprecher Peskow den USA, sie wollten mit der Verdächtigung von Ukrainern nur von der eigenen Täterschaft ablenken. Der Kreml wiederholte damit eine Unterstellung, die er schon unmittelbar nach den Anschlägen verkündet hatte. Der Grund für diese ungewöhnliche Zurückhaltung gegenüber der Regierung in Kiew könnte gewesen sein, dass man die Ukraine in den Augen der russischen Öffentlichkeit nicht noch schlagkräftiger erscheinen lassen wollte, als für jedermann bereits ersichtlich geworden war, nachdem sie sich mit so großer Entschiedenheit und unerwartetem Erfolg gegen ihre gewaltsame Einverleibung in Putins Imperium gewehrt hatte.
Die von den Ukrainern gemietete "Andromeda" ist eine 15 Meter lange Segeljacht vom Typ Bavaria C50. Bei ihrer nachträglichen Untersuchung in einem alten Militärhafen in Dranske auf Rügen entdeckten die Ermittler im Januar vorigen Jahres Sprengstoffreste auf einem Tisch. Foto: ZDF/frontal
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Der Hauptverdächtige in diesem Verwirrspiel blieb damit noch immer der Kreml, der zweifelsfrei über sämtliche Mittel verfügte, um die für ihn nutzlos gewordenen Leitungen durch die Ostsee zusätzlich noch in die Luft zu sprengen – aus welchen Gründen auch immer. Zum Beispiel war dem skrupellos agierenden Putin-Regime durchaus zuzutrauen, dass es mit einem aggressiven Paukenschlag die gleichzeitig erfolgte "Teilmobilmachung" von zunächst 300.000 Rekruten begleiten wollte, nachdem das russische Militär in der Ukraine keineswegs so vorankam, wie man sich das vorgestellt hatte, und sich teilweise sogar wieder zurückziehen musste (220901). Ein anderes Motiv hätte sein können, dem Westen die Verletzlichkeit seiner Versorgungsstrukturen an einem geeigneten Beispiel eindringlich vor Augen zu führen – als versteckte Drohung für den Fall, dass er die Ukraine weiterhin unterstützen sollte. Jedenfalls kam kaum jemand auf die Idee, dass die am 26. September erfolgten Explosionen ursprünglich gar nicht den bereits nutzlosen Leitungen galten, sondern den bis Ende Juli 2022 andauernden Gasfluss von Russland nach Deutschland stoppen sollten.
Strafbar blieben die Anschläge aber nach wie vor. Seit 10. Oktober 2022 ermittelte der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof in dieser Angelegenheit wegen Verdachts des vorsätzlichen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit verfassungsfeindlicher Sabotage gemäß § 308 Absatz 1, § 88 Absatz 1 Nummer 3, § 52 des Strafgesetzbuches (StGB). Außerdem wurden die Sicherheitsbehörden von Dänemark und Schweden aktiv, in deren "Ausschließlichen Wirtschaftszonen" jeweils zwei der vier Anschläge stattfanden. Beide Länder haben ihre Ermittlungen aber im Februar dieses Jahres wieder ergebnislos eingestellt, wobei die Schweden das ihnen bisher vorliegende Material an die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe weiterreichten.
Die Ermittlungen der deutschen Strafverfolger richteten sich zunächst gegen "Unbekannt". Über ihren Stand wurde bisher offiziell überhaupt nichts mitgeteilt. Erst aufgrund der Recherchen von ARD, "Süddeutscher Zeitung" und "Zeit" erfuhr die Öffentlichkeit am 14. August, dass die Generalbundesanwaltschaft Anfang Juni einen Europäischen Haftbefehl (EuHB) zur Festnahme eines ukrainischen Staatsbürgers erließ, der an der Anbringung der Sprengsätze beteiligt gewesen sein soll. Aber auch dann war die Generalbundesanwaltschaft nicht bereit, auf Nachfrage der FAZ (15.8.) auch nur den Erlass des Haftbefehls zu bestätigen.
Der Verdächtigte namens Wolodymyr Z. gehörte zu den beiden Tauchern der "Andromeda"-Besatzung. Er arbeitete früher als Tauchlehrer an einer Tauchschule in Kiew. Diese gehörte einen Ehepaar, das sich ebenfalls mit an Bord befand. Zuletzt wohnte Wolodymyr Z. in Polen, in einem Ort nahe Warschau, wo er offenbar auch festgenommen werden sollte. Dazu kam es aber nicht, weil er trotz des Haftbefehls ungehindert in die Ukraine ausreisen und dort untertauchen konnte.
Die polnischen Behörden erklärten diese Fahndungspanne damit, dass die Generalbundesanwaltschaft es versäumt habe, den Haftbefehl auch im Schengen-Informationssystem (SIS) zu melden. "Wolodymyr Z. hat die polnisch-ukrainische Grenze überquert, bevor es zur Festnahme kam, und der polnische Grenzschutz hatte weder die Informationen noch die Grundlagen, um ihm festzunehmen, da er nicht als Gesuchter aufgelistet war", sagte eine Sprecherin der polnischen Generalstaatsanwaltschaft der "Deutschen Presse-Agentur".
Die gewundene Formulierung lässt vermuten, dass dem per Haftbefehl Gesuchten von polnischer Seite die Möglichkeit eingeräumt oder sogar nahegelegt wurde, sich der strafrechtlichen Verfolgung innerhalb der EU zu entziehen. Aber auch die Generalbundesanwaltschaft hätte zumindest fahrlässig gehandelt, falls sie im Vertrauen auf einen sofortigen Zugriff der polnischen Behörden auf die SIS-Meldung verzichtet hat. Schließlich weiß man, dass die Nord Stream-Pipeline für Polen schon immer ein rotes Tuch war und parteiübergreifend abgelehnt wird.
"In Polen gelten die Nord Stream-Attentäter als Volkshelden", bemerkte dazu der stellvertretende "Zeit"-Chefredakteur Holger Stark in der ARD-Sendung "Kontraste" vom 15. August. "Mehr als einmal hat die polnische Regierung unter der Hand signalisiert, dass sie mit diesem Anschlag keine großen Probleme hat und den Röhren nicht nachtrauert. Das heißt: Die Festnahme bzw. Auslieferung eines Ukrainers, der verdächtigt wird, die Röhren gesprengt zu haben, ist für jede polnische Regierung immer ein Politikum."