November 2024 |
241101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der Hauptgrund für den Niedergang und das schließliche Zerbrechen der Ampel war, dass die FDP (gelbe Kurve) schon zwölf Monate nach Regierungsantritt bei der "Sonntagsfrage" bis auf fünf Prozent absackte. In panischer Angst, bei der regulären Neuwahl im September 2025 erneut aus dem Bundestag verbannt zu werden, versuchte deshalb der Parteichef Lindner, den Wählerkreis der Partei rechts von SPD und Grünen durch einen permanenten Zwist mit den beiden Koalitionspartnern zu erweitern. Dort ackerte indessen die Union (schwarze Kurve) erfolgreicher, während die FDP gerade wegen ihrer Behinderung einer gemeinsam erfolgreichen Regierungspolitik zum Schluss fast dauerhaft unter fünf Prozent lag. (Siehe Hintergrund) |
Die "Ampel"-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist am 6. November endgültig zerbrochen. Wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) abends mitteilte, hat er den Bundespräsidenten um die Entlassung des bisherigen Bundesfinanzministers Christian Lindner (FDP) gebeten. "Ich sehe mich zu diesem Schritt gezwungen, um Schaden von unserem Land abzuwenden", begründete er Lindners Entlassung. "Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung, die die Kraft hat, die nötigen Entscheidungen für unserer Land zu treffen."
Nach dem Rauswurf des FDP-Vorsitzenden aus dem Kabinett legten seine Parteifreunde Marco Buschmann (Justiz) und Bettina Stark-Watzinger (Bildung und Forschung) von sich aus ihre Ämter nieder. Dagegen lehnte Verkehrsminister Volker Wissing einen Rücktritt ab. Er wolle sich treu bleiben und könne den Kurs von Parteichef Lindner nicht mittragen, erklärte er. Er fühle sich der FDP aber weiterhin verbunden und werde nur deshalb aus der Partei austreten, um noch größeren Schaden von ihr abzuwenden. Auf Wunsch des Kanzlers übernahm der ehemalige Richter und Staatsanwalt zusätzlich die vorläufige Leitung des Justizministeriums.
Zunächst wollte Scholz die nur noch aus SPD und Grünen bestehende Koalition bis Anfang des kommenden Jahres weiter regieren lassen, obwohl ihr im Bundestag die Mehrheit fehlt, um weitere Gesetze zu beschließen. Dazu gehört vor allem das Gesetz über den Bundeshaushalt 2025, das vom Parlament bereits in erster Lesung behandelt wurde und Ende November verabschiedet werden sollte. Der Kanzler scheint gehofft zu haben, diese und andere dringliche Gesetzesvorhaben mit Unterstützung der Unionsparteien verabschieden zu können. Nur so lässt sich erklären, dass er erst am 15. Januar im Bundestag die Vertrauensfrage gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes stellen wollte, um über das vorhersehbare Votum die Auflösung des Parlaments und die Ansetzung von Neuwahlen im März zu erreichen. Eine "handlungsfähige Regierung", wie sie Scholz mit dem Rauswurf Lindners erreichen wollte, wäre auf diese Weise erst im Frühjahr zustande gekommen.
Die Union machte allerdings schnell klar, dass sie der Minderheitsregierung selbst dort nicht über die parlamentarischen Hürden helfen würde, wo es keine wesentlichen inhaltlichen Differenzen gibt. Schon am 12. November einigten sich deshalb die Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich (SPD) und Friedrich Merz (CDU/CSU) darauf, dass der Bundeskanzler am 11. Dezember schriftlich die Vertrauensfrage stellen wird, über die der Bundestag dann am 16. Dezember diskutiert und abstimmt. Nach der daraufhin vom Bundeskanzler beantragten Auflösung des Parlaments werden am 23. Februar die vorgezogenen Wahlen zum 20. Bundestag stattfinden. Infolge dieser Einigung zeigte sich die Union dann doch bereit, die Verabschiedung aktueller Gesetzesvorhaben zu ermöglichen, bei denen es keine Differenzen gibt. So stimmte sie am 13. November einer Verlängerung der Telefonüberwachung zur Aufklärung von Wohnungseinbrüchen zu, die sonst ausgelaufen wäre.
Ferner will die Union noch vor Jahresende der Verlängerung des "Deutschlandtickets" zustimmen, das die Ampel-Regierung im März 2022 mit einem 90 Tage gültigen "9-Euro-Ticket" für den gesamten deutschen Personennahverkehr angestoßen hatte (220308). Ab Mai 2023 wurde dieses staatlich subventionierte Deutschlandticket zu einem regulären Angebot, allerdings zum vielfach höheren Preis von monatlich 49 Euro. Mit der zwischen Bund und Ländern bereits vereinbarten Verlängerung um ein weiteres Jahr steigt der Preis auf 58 Euro. Dennoch ist das Angebot so populär, dass es sich die Union vorerst nicht leisten kann, das "Deutschlandticket" wegen der nach wie vor erforderlichen Subventionierung abzuschaffen.
In seiner Regierungserklärung vom 6. November (PDF)begründete Scholz die Entlassung Lindners mit einer sonst von ihm nicht gewohnten Schärfe unter anderem so:
"Zu oft wurden die nötigen Kompromisse übertönt durch öffentlich inszenierten Streit und laute ideologische Forderungen. Zu oft hat Bundesminister Lindner Gesetze sachfremd blockiert. Zu oft hat er kleinkariert parteipolitisch taktiert. Zu oft hat er mein Vertrauen gebrochen. Sogar die Einigung auf den Haushalt hat er einseitig wieder aufgekündigt, nachdem wir uns in langen Verhandlungen bereits darauf verständigt hatten. Es gibt keine Vertrauensbasis für die weitere Zusammenarbeit. So ist ernsthafte Regierungsarbeit nicht möglich.
Wer in eine Regierung eintritt, der muss seriös und verantwortungsvoll handeln; der darf sich nicht in die Büsche schlagen, wenn es schwierig wird; der muss zu Kompromissen im Interesse aller Bürgerinnen und Bürger bereit sein. Darum aber geht es Christian Lindner gerade nicht. Ihm geht es um die eigene Klientel, ihm geht es um das kurzfristige Überleben der eigenen Partei. Gerade heute, einen Tag nach einem so wichtigen Ereignis wie den Wahlen in Amerika, ist solcher Egoismus vollkommen unverständlich."
Zugleich warf er Lindner vor, in neoliberaler Manier die soziale Ungleichheit und Spaltung der Gesellschaft voranzutreiben:
"Meine feste Überzeugung lautet: Niemals, niemals dürfen wir innere, äußere und soziale Sicherheit gegeneinander ausspielen. Das gefährdet unseren Zusammenhalt, das gefährdet am Ende sogar unsere Demokratie. Warum sage ich das? Bundesminister Lindner hat ultimativ und öffentlich eine grundlegend andere Politik gefordert: milliardenschwere Steuersenkungen für wenige Spitzenverdiener und zugleich Rentenkürzungen für alle Rentnerinnen und Rentner. Das ist nicht anständig, das ist nicht gerecht, Steuergeschenke mit der Gießkanne und zur Gegenfinanzierung ein Griff in die Tasche unserer Städte und Gemeinden.
Einen Ausstieg aus Investitionen in die klimafreundliche Modernisierung unseres Landes, auch das will Christian Lindner. Das schürt Unsicherheit in unserer Wirtschaft und es verspielt unsere Chance, bei den Technologien der Zukunft vorne dabei zu sein. Die USA, China und andere schlafen nicht. Verklausuliert spricht Christian Lindner von der Hebung von Effizienzreserven in unseren Sozialversicherungssystemen. Dahinter aber verbergen sich harte Einschnitte bei Gesundheit und Pflege und weniger Sicherheit, wenn jemand in Not gerät. Das ist respektlos gegenüber allen, die sich diese Sicherheiten hart erarbeitet haben, gegenüber allen, die Steuern und Sozialabgaben zahlen."
Am 25. November wurde Scholz vom SPD-Parteivorstand erneut zum Spitzenkandidaten für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf nominiert. Das war seit langem so geplant, und ein am 11. Januar stattfindender Parteitag dürfte diesen Beschluss mit großer Mehrheit bestätigen. Nach dem Bruch der Koalition sprachen sich aber immer mehr SPD-Politiker auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene für Boris Pistorius aus, der im Januar 2023 die überforderte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht abgelöst hatte und in kürzester Zeit bei Umfragen von allen Kabinettsmitgliedern die größte Beliebtheit erreichte. Diese Popularität dürfte hauptsächlich daran gelegen haben, dass Pistorius gegenüber dem Kreml-Herrscher Putin und dessen brutalen Überfall auf die Ukraine deutlicher "klare Kante" zeigte als der Kanzler. Pistorius wurde jedenfalls ein besseres Wahlergebnis zugetraut als Scholz. Das hätte auch etliche Abgeordnete von der Angst befreit, ihre Sitze im Bundestag und die damit verbundenen Diäten zu verlieren. Es "grummelte" deshalb ziemlich innerhalb der Partei, wie der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die Uneinigkeit hinsichtlich des Spitzenkandidaten umschrieb.
Andererseits ist Popularität noch lange keine Garantie dafür, dass jemand zum Kanzler taugt oder tatsächlich die dafür erforderlichen Stimmen erhält. Das hatte sich 2017 gezeigt, als die SPD den bis dahin fast unbekannten Europa-Abgeordneten Martin Schulz zu ihrem Kanzlerkandidaten erkor, dem man wohl gerade aufgrund dieser Unbekanntheit das Versprechen abnahm, endlich für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen und so das traditionelle Profil der Partei wieder zu schärfen, das durch Schröders neoliberale "Reformen" unglaubwürdig geworden war. Die Beliebtheitswerte dieses Kanzlerkandidaten gingen zunächst inner- wie außerhalb der Partei durch die Decke, bis er ausgerechnet Schröder zu seinem Wahlkampfhelfer machte und der SPD bei der Bundestagswahl 2017 zu ihrem bisher schlechtesten Ergebnis verhalf (170802, 170906).
Insofern war es im Interesse der Partei wie des Landes die klügere Entscheidung, dass der zunächst nicht abgeneigt wirkende Pistorius am 21. November förmlich seinen Verzicht erklärte. "Das ist meine souveräne, meine persönliche und ganz eigene Entscheidung", versicherte er. Olaf Scholz habe eine schwierige Koalition aus drei Parteien durch die vielleicht größte Krise der vergangenen Jahrzehnte geführt. Er stehe für Vernunft und Besonnenheit. Das sei in Krisenzeiten wie diesen besonders wichtig.
Ende November stellte sich dann noch heraus, dass die FDP -Führung schon am 29. September die Erarbeitung von "D-Day-Ablaufszenarien" in Auftrag gegeben hatte, um zu einem von ihr bestimmten Zeitpunkt die Koalition aufzukündigen und dies propagandistisch zu rechtfertigen. Möglicherweise wusste Scholz von diesem geheimen Papier, als er am 6. November den FDP-Chef Lindner ultimativ zur konstruktiven Mitarbeit aufforderte und ihn nach dessen Weigerung aus dem Kabinett warf. Im Zusammenhang mit dieser "D-Day-Affäre" erklärten am 29. November der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai und der Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann ihren Rücktritt. Zum neuen Generalsekretär bestimmte Lindner den zurückgetretenen Bundesjustizminister Marco Buschmann (siehe Hintergrund).