Juni 1998

980601

ENERGIE-CHRONIK


Radioaktive Verunreinigungen an Behältern dienen als Munition im Vorwahlkampf

Die radioaktiven Verunreinigungen an Transportbehältern für abgebrannte Brennelemente (980501) blieben auch im Juni das beherrschende energiepolitische Thema. Die SPD und die von ihr regierten Bundesländer warfen der Bundesregierung erneut Versäumnisse bei der Kontrolle der Kernenergiewirtschaft vor. Die Grünen ergriffen die unverhoffte Chance, sich energiepolitisch wieder durch ihre alte Forderung nach dem Ausstieg aus der Kernenergie zu profilieren, nachdem ihre Benzinpreis-Forderung (3/98) ein äußerst negatives Echo gefunden hatte. Die Bundesregierung kritisierte die Angriffe der Opposition als wahltaktisch bestimmte Manöver. Sie betonte zugleich, daß nicht sie, sondern die Kernkraftwerksbetreiber für diese Affäre verantwortlich seien. Die Stromversorger erklärten sich bereit, den vom Bundesumweltministerium vorgelegten Zehn-Punkte-Plan möglichst schnell zu verwirklichen, um die Transporte bald wiederaufnehmen zu können. Dagegen richteten die Gegner der Kernenergie ihr Interesse auf einen möglichen Entsorgungsengpaß, um über den gesetzlich geforderten Entsorgungsvorsorgenachweis den Betrieb der Kernkraftwerke in Frage zu stellen und damit die Betreiber unter Druck zu setzen.

Länderminister boykottieren Treffen mit Merkel

Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) lud ihre Amtskollegen aus den Ländern für den 2.6. zu einem Treffen nach Bonn, um mit ihnen die Situation zu erörtern. Vor allem sollte es um die Umsetzung ihres am 25.5. vorgelegten Zehn-Punkte-Plans gehen. Von den 16 Umweltministern erschienen jedoch nur vier persönlich. Die Minister der SPD-regierten Bundesländer begründeten ihr Fernbleiben damit, daß es Merkel nur darum gehe, die gegen sie gerichteten Vorwürfe auf die Aufsichtsbehörden der Länder zu lenken (SZ, 3.6. u. 4.6.; FAZ, 3.6.).

Unmittelbar vor dem Treffen hatten die Kernkraftwerksbetreiber ein technisches und organisatorisches Maßnahmepaket als Antwort auf Merkels Zehn-Punkte-Plan vorgelegt. Merkel hielt diese Vorschläge für nicht weitgehend genug. Sie kündigte an, die Transportfirmen dem unmittelbaren Einfluß der Energieversorger entziehen zu wollen (Handelsblatt, 3.6.; SZ, 4.6.).

Auf Landesebene schlug die Auseinandersetzung vor allem dort Wellen, wo sich Standorte von Kernkraftwerken befinden: In Niedersachsen und Schleswig-Holstein debattierten am 10.6. bzw. am 11.6. die Landtage über die Transportbehälter-Affäre. Die jeweilige Opposition aus CDU, Grünen und FDP warf dabei den SPD-Landesregierungen vor, ihre Aufsichtspflicht verletzt zu haben (Hann. Allgemeine, 11.6. u. 12.6.; Welt, 12.6.; Hamburger Abendblatt, 12.6.). In Hessen nahm die Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) die Affäre zum Anlaß, um die Zuverlässigkeit der RWE Energie als Betreiber des Kernkraftwerks Biblis in Frage zu stellen und - wie schon ihre Vorgängerin Margarethe Nimsch - mit der Stillegung der Anlage zu drohen (DPA, 9.6.; taz, 5.6.).

Der niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner will den Kernkraftwerksbetreibern des Landes vorerst keine atomrechtlichen Änderungsgenehmigungen mehr erteilen. Er begründete dies mit Recherchen seiner Beamten, die ergeben hätten, daß auch PreussenElektra über die Grenzwertüberschreitungen informiert gewesen sei. Unter anderem könnte dadurch die geplante Umstrukturierung der PreussenElektra im Kernenergie-Bereich behindert werden (Handelsblatt, 16.6.; Hann. Allgemeine, 16.6.).

Der baden-württembergische Umwelt- und Verkehrsminister Hermann Schaufler (CDU) erklärte vor einem Ausschuß des Landtags, daß er sich von den Betreibern der Kernkraftwerke "hintergangen" fühle und im übrigen die Kernenergie noch nie "für der Weisheit letzter Schluß" gehalten habe (Stuttgarter Zeitung, 10.6. u. 12.6.). Der bayerische Umweltminister Thomas Goppel (CSU) teilte am 6.6. die Einrichtung einer "Sonderkommission Castor" mit, die jeder Frage und Unklarheit im Zusammenhang mit dem Transport abgebrannter Brennelemente aus bayerischen Kernkraftwerken nachgehen werde. Wie er in einem Zwischenbericht mitteilte, waren von 267 Transporten, die seit 1981 zwischen Bayern und den Wiederaufarbeitungsanlagen in Frankreich und England stattfanden, 104 kontaminiert (DPA, 6.6.; SZ, 19.6.).

Beim Festakt zum hundertjährigen Jubiläum des RWE-Konzerns am 5.6. in Essen hielt Bundeskanzler Helmut Kohl den Kernkraftwerksbetreibern vor, das notwendige Vertrauen der Bürger in die Sicherheit der Kernenergie schwer erschüttert zu haben. Sie hätten damit dem Standort Deutschland schweren Schaden zugefügt. Zur Wahrheit gehöre allerdings ebenso, daß nach derzeitiger Erkenntnis zu keiner Zeit ein Gesundheitsrisiko durch die Verunreinigungen an den Behältern bestanden habe. Er habe auch kein Verständnis dafür, wenn manche nun, statt an der Aufklärung der Vorgänge konstruktiv mitzuwirken, aus wahltaktischen Gründen die verständlichen Besorgnisse der Bürger auszunutzen versuchten, um ihrem ideologischen Ziel eines Ausstiegs aus der Kernenergie näherzukommen (SZ, 6.6.; FAZ, 6.6.; Welt, 6.6.).

Die Deutsche Bahn ließ nach Bekanntwerden der radioaktiven Verunreinigungen alle Transportgeräte für Brennelementebehälter überprüfen. Dabei wurde am 4.6. auf dem Bahngelände in Darmstadt am Bodenblech eines Transportgestells an einer Stelle eine radioaktive Strahlung von 50 000 Becquerel gemessen (SZ, 6.6.; taz, 6.6.).

Merkel will Neuorganisation der Transportfirmen

Am 16.6. traf sich Bundesumweltministerin Angela Merkel mit den Holding-Vorständen einiger Kernenergieunternehmen, um das weitere Vorgehen zu erörtern. Am 17.6. legte sie dem Umweltausschuß des Bundestags einen zweiten Bericht zum Sachstand vor: Bei 200 Behältertransporten, die zwischen 1993 und 1998 aus deutschen Kernkraftwerken zur Wiederaufarbeitung nach La Hague gingen, seien an 18 Behältern und an 51 Waggons Grenzwertüberschreitungen bis zu 23 000 Becquerel gemessen worden. Eine Gefährdung der Bevölkerung oder des Begleitpersonals habe jedoch zu keiner Zeit bestanden ( (DPA, 16.6.; FAZ, 18.6.; Berliner Zeitung 18.6.).

Merkel berichtete vor dem Umweltausschuß auch über Erkenntnisse einer EU-Arbeitsgruppe: Demnach haben sich zwischen 1975 und 1986 bei Transporten mit radioaktiven Stoffen eine Reihe von Straßenverkehrsunfällen mit Toten und Verletzten ereignet. "In wenigen Fällen" sei es zu einer erhöhten Strahlenbelastung von Begleitpersonen der Transporte wegen unzureichender Abschirmung gekommen (DPA, 17.6.).

In Presseberichten wurde Merkel vorgehalten, daß ein entsprechender Bericht der EU-Kommission auch für die Jahre 1987 bis 1996 vorliege und den Beamten ihres Ministeriums bekannt sei. Wörtlich heiße es in diesem Bericht: "In einigen Fällen ist eine leichte Kontamination der Außenseite einer Verpackung möglich. Dies betrifft beispielsweise große Versandstücke mit bestrahltem Brennstoff " (Berliner Zeitung ,18.6.; Tagesspiegel, 19.6.)

Wie Merkel am 17.6. vor der Presse erklärte, ist vorläufig noch kein Ende des mit den Kernkraftwerksbetreibern vereinbarten Transportstopps für abgebrannte Brennelemente abzusehen. Die förmliche Anordnung eines Transportstopps hielt sie für ungeeignet, weil ein solcher Verwaltungsakt gerichtlich angefochten werden könne, bevor er verbindlich wird. Den Länderbehörden von Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein warf sie vor, von konkreten Grenzwertüberschreitungen bei Transporten von und nach Frankreich gewußt zu haben, ohne den Bund darüber zu informieren. Den Energieversorgern hielt sie erneut vor, die gesellschaftliche Dimension der Affäre nicht begriffen zu haben (FAZ, 18.6.; Handelsblatt, 18.6.).

KKW-Betreiber versprechen mehr Transparenz

Die deutsche Stromwirtschaft werde auf die jetzige Affäre mit mehr Transparenz und Offenheit reagieren, kündigte der Präsident der Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke, Heinz Klinger, am 15.6. auf der VDEW-Jahrespressekonferenz in Frankfurt an. Ein endgültiger Stop der Transporte oder gar ein Rückzug aus der Kerneneergie komme jedoch nicht in Frage (FAZ, 16.6.; SZ, 16.6.).

Der RWE-Energie-Vorstand setzte zur Untersuchung der radioaktiven Verunreinigungen an den Transportbehältern eine Kommission ein, der auch unabhängige Gutachter angehören und die Anfang Juli erste Ergebnisse vorlegen soll. "Meine Vorstandskollegen und ich werden alle Maßnahmen ergreifen, um eine höhere Transparenz im Zusammenhang mit den relevanten Vorgängen bei Brennelementtransporten zu erreichen", unterstrich der Vorstandsvorsitzende Roland Farnung am 17.6. bei der Jahrespressekonferenz des Unternehmens (FAZ, 2.6. u. 18.6.).

Die deutschen Kernkraftwerksbetreiber sind an einer baldigen Wiederaufnahme der Transporte interessiert. Sie wollen deshalb alles tun, um eine zügige Umsetzung des Zehn-Punkte-Plans von Bundesumweltministerin Angela Merkel zu gewährleisten, sagte der Bayernwerk-Vorstandsvorsitzende Otto Majewski am 23.6. vor dem Umweltausschuß des Bundestags. Als Sprecher der Kernkraftwerksbetreiber wies er den Vorwurf zurück, die Kernkraftwerke hätte die Verunreinigungen an Brennelementebehälteren und Transporteinrichtungen vertuschen wollen. Tatsache sei jedoch, daß die Aufsichtsbehörden nur in Einzelfällen informiert wurden. Dies habe das Vertrauen der Bevölkerung in die absolute Korrektheit der Transporte und die Betriebsführung erschüttert. Künftig wolle man deshalb "neben dem gläsernen Kraftwerk auch den gläsernen Transport schaffen", versicherte Majewski (FAZ, 24.6.).

Politiker von SPD und Grünen sehen Handhabe, um Weiterbetrieb von KKW in Frage zu stellen

Der schleswig-holsteinische Energieminister Claus Möller (SPD) nahm die Transportbehälter-Affäre zum Anlaß, um den Weiterbetrieb der in Schleswig-Holstein gelegenen Kernkraftwerke Brokdorf, Brunsbüttel und Krümmel in Frage zu stellen: Er hege Zweifel, ob für deren abgebrannte Brennelemente noch der gesetzlich vorgeschriebene Entsorgungsvorsorgenachweis für sechs Jahre gegeben sei, nachdem die vorgesehenen Transporte zu den Wiederaufarbeitungslagen bis auf weiteres gestoppt wurden. Dem Kernkraftwerk Brokdorf, das nach einmonatiger Revision wieder ans Netz gehen könnte, werde er deshalb zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Genehmigung für das Wiederanfahren erteilen. Die hessische Umweltministerin Priska Hinz (Grüne) deutete an, daß sie bei den demnächst anstehenden Revisionen für die beiden Blöcke in Biblis ähnlich verfahren wolle (Hann. Allgemeine, 23.6.; Hamburger Abendblatt, 20.6.; FR, 20.6.).

Am 26.6. erteilte das schleswig-holsteinische Energieministerium dann aber doch die Zustimmung zum Wiederanfahren des KKW Brokdorf. Vorausgegangen war ein bundesaufsichtliches Gespräch mit Vertretern des Bundesumweltministeriums, in dem deutlich geworden sei, daß es sich bei der Aussetzung der Transporte nur um eine zeitlich begrenzte Maßnahme handele, welche die Entsorgungsvorsorgenachweise nicht berühre. Wie das Energieministerium in einer Pressemitteilung weiter erklärte, sieht es "im Unterschied dazu die bisherige Anwendung der Entsorgungsgrundsätze in Frage gestellt, muß aber hinnehmen, daß die Zustimmung zum Wiederanfahren allein aus diesem Grund nicht verweigert werden kann".

Die Bündnisgrünen unterstrichen am 7.6. auf einem Kleinen Parteitag in Bonn ihre Forderung nach einem Gesetz zur schrittweisen Abschaltung aller 19 deutschen Reaktoren. Angesichts der Transportbehälter-Affäre soll die Atompolitik nun das zentrale Wahlkampfthema zur Mobilisierung der eigenen Basis werden. Die Forderung nach einem Benzinpreis von fünf Mark taucht dagegen nicht mehr in dem Kurzprogramm auf, das die Delegierten einstimmig verabschiedeten (SZ, 8.6.).

Transportstops auch in der Schweiz und in Holland

Wie die Schweizerische Vereinigung für Atomenergie am 3.6. mitteilte, haben die französischen Behörden von 1993 bis 1998 an neun Transportbehältern mit abgebrannten Brennelementen aus den Kernkraftwerken Leibstadt, Gösgen und Beznau radioaktive Verunreinigungen festgestellt. Davon erfahren habe man jedoch erst vor kurzem. Vereinzelt wurden nach Angaben der KKW-Betreiber auch an zurückkehrenden Leerwagen aus La Hague und Sellafield überhöhte Werte gemessen. Dies habe man den Absendern in Frankreich und Großbritannien zum Teil gemeldet. Das schweizerische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation verfügte am 29.5. ebenfalls einen Transportstopp, "bis die Ursachen der Kontaminationen ermittelt und behoben sind" (Der Bund, 4.6.; Baseler Zeitung, 4.6.).

An niederländischen Transporten mit abgebrannten Brennelementen, die nach La Hague und Sellafield gingen, wurden seit 1988 in mindestens zehn Fällen überhöhte Becquerel-Werte gemessen. Dies teilte Umweltministerin Margreet de Boer am 20.6. mit. Sie kritisierte die beiden Kernkraftwerke Borssele und Dodewaard, weil sie diese Vorfälle nicht gemeldet hatten, und ordnete bis auf weiteres ein Transportverbot an (FAZ, 22.6.; FR, 22.6.).