November 2001

011103

ENERGIE-CHRONIK


Den Pannen in Philippsburg folgen neue Auseinandersetzungen

Dem politischen Wirbel um die Pannen im Kernkraftwerk Philippsburg (011001) folgten im November weitere Auseinandersetzungen um die Qualifikation der Kraftwerksleitung und die geplante Berufung des früheren Chefs der Schweizer Atomaufsicht, Serge Prêtre, zum Vorsitzenden einer Gutachterkommission. Gesteigerte Aufmerksamkeit fanden auch zwei meldepflichtige Ereignisse in den Blöcken 1 und 2 des KKW Philippsburg, die von der Energie Baden-Württemberg (EnBW) in die unterste Stufe der INES-Skala eingeordnet wurden.

Leiter des KKW Philippsburg ohne Reaktor-Lizenz

Wie die "Stuttgarter Zeitung" am 26.11. berichtete, erfüllt der Leiter des Kernkraftwerks Philippsburg, Hans-Josef Zimmer, nicht die formalen Voraussetzungen, um einen Reaktor leiten zu dürfen. Dazu hätte er mindestens ein Jahr praktische Erfahrung mit dem Betrieb eines Reaktors haben müssen. Als sein Vorgänger im Oktober vorigen Jahres in Pension ging, habe deshalb die EnBW die atomrechtliche Verantwortung mit Zustimmung der Landesatomaufsicht allein den beiden Reaktorchefs übertragen, die für die Blöcke 1 und 2 zuständig sind. In der Praxis habe sich Zimmer aber als atomrechtlich verantwortlicher Leiter der Anlage benommen und als solcher gegolten. "Zimmer schwebte fortan irgendwie über ihnen - ohne offizielle Lizenz und angeblich auch ohne direkte Verantwortung." Weitere Recherchen der Zeitung ergaben, daß Im Kernkraftwerk Neckarwestheim eine ähnliche Konstellation besteht. Ansonsten verfügten alle Leiter von Kernkraftwerken mit zwei Blöcken in Deutschland zugleich über eine Reaktor-Lizenz.

SPD und Grüne reagierten auf diesen Bericht mit der erneuten Forderung nach Rücktritt von Umweltminister Ulrich Müller (CDU). Als oberster Chef der Atomaufsicht im Land habe Müller wieder mal einen "verheerenden Mangel an Sicherheitsbewußtsein und Gesetzestreue" erkennen lassen. Der Minister bezeichnete dagegen den Streit um die Kompetenzverteilung im KKW Philippsburg als überflüssig und "Streit um des Kaisers Bart". Auch nach Ansicht der EnBW ist die getroffene Lösung rechtlich nicht zu beanstanden. Allerdings sei die Diskussion darüber "berechtigt", räumte EnBW-Chef Goll ein.

Heftige Kritik an Serge Prêtre als Gutachter

Der frühere Chef der Schweizer Atomaufsicht, Serge Prêtre, teilte am 13. November mit, daß er für die geplante Gutachtergruppe zur Untersuchung der baden-württembergischen Atomaufsicht nicht mehr zur Verfügung steht. In einer Presssemitteilung vom 14. November wertete das Stuttgarter Umweltministerium den Rückzug Prêtres als "Ausdruck von Verantwortungsbewußtsein und Sensibilität".

Zuvor war in den Medien und seitens der Opposition im Landtag heftige Kritik an Umweltminister Ulrich Müller (CDU) geübt worden, weil er den Schweizer Kernenergie-Experten, der auch Vorsitzender der Internationalen Länderkommission Kerntechnik (ILK) ist, zum Vorsitzenden der Gutachter-Kommission ausersehen hatte. Damit würde "der Bock zum Gärtner gemacht". Die Kritik entzündete sich hauptsächlich an "bizarren Thesen", mit denen Prêtre die Besorgnisse nach der Katastrophe von Tschernobyl als eine Art Massenhysterie hingestellt habe. So habe er 1992 im Fachblatt "atomwirtschaft" von einer "psychischen Epidemie" namens "Strahlenphobie" geschrieben und einen Zusammenhang gesehen mit "Religionskriegen, Inquisition, Hexenjagden, Rassismus, Nazismus und allen übrigen nationalistischen Wahnvorstellungen" (Stuttgarter Zeitung, 15.11.)

Die baden-württembergische Atomaufsicht war nach den Pannen im Kernkraftwerk Philippsburg (011001) ins Visier der Kritik geraten. Umweltminister Ulrich Müller hatte daraufhin am 19. Oktober angekündigt, die Behörde von einer drei- bis fünfköpfigen Gutachtergruppe untersuchen lassen. Laut "Stuttgarter Zeitung" (15.11.) war der Chef der Atomaufsicht, Dietmar Keil, an der Auswahl Prêtres maßgeblich beteiligt. Dagegen habe der Umweltminister offenbar keine Ahnung von den Angriffsflächen gehabt, die mit der Empfehlung Prêtres als Mitglied und Vorsitzender der Gutachterkommission verbunden waren.

"Länderkommission Kerntechnik" unter Beschuß

Vor der Affäre um die Gutachter-Kommission hatten die Oppositionsparteien erneut den Ausstieg Baden-Württembergs aus der Internationalen Länderkommission Kerntechnik (ILK) verlangt, deren Vorsitzender Prêtre ist. Die ILK war vor zwei Jahren von den unionsregierten süddeutschen Ländern als Gegenstück zur neubesetzten Reaktorsicherheitskommission ins Leben gerufen worden ( 991021). Die SPD bezeichnete die ILK als "reines Propagandainstrument, teuer und nutzlos". Die Grünen sprachen von einer "Komikertruppe", die in der Affäre um das Kernkraftwerk Philippsburg "kläglich versagt" habe. Das Umweltministerium nahm die ILK gegen den Vorwurf der Untätigkeit in Schutz und kündigte an, daß sie Anfang 2002 auch über "grundsätzliche Schlußfolgerungen aus den Ereignissen im Kernkraftwerk Philippsburg 2 für alle deutschen Kernkraftwerke beraten" werde. (Stuttgarter Zeitung, 8.11.)

Philippsburg 2 weiterhin abgeschaltet

Der zweite Block des Kernkraftwerks Philippsburg blieb im November weiterhin abgeschaltet. Wie die EnBW am 23. November in einer weiteren ad-hoc-Mitteilung bekanntgab, ist mit der Wiederaufnahme der Stromerzeugung erst im Laufe des Dezember zu rechnen. Jeder Tag Stillstand kostet die Energie Baden-Württemberg (EnBW) rund eine Million Mark. Die EnBW wolle das Wiederanfahren des Reaktors "nach Möglichkeit im Konsens mit den Aufsichtsbehörden gestalten", sagte EnBW-Chef Gerhard Goll bei einer Pressekonferenz am 20. November. Kritisch äußerte sich Goll über die Internationale Länderkommission Kerntechnik (ILK), der er schon bei ihrer Gründung vor zwei Jahren nichts abgewinnen konnte: Dieses Gremium "hilft uns überhaupt nichts", sagte er. Maßgeblich für die EnBW seien allein die Reaktorsicherheitskommission (990303) und die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (000615).

Kernkraftwerk Isar 1 wieder in Betrieb

Das Kernkraftwerk Isar 1, das am 22. September zur Jahresrevision abgeschaltet worden war, ging am 19. November wieder ans Netz. Die Wiederinbetriebnahme hatte sich verzögert, weil Mitarbeiter des Kernkraftwerks in anonymen Schreiben beschuldigt worden waren, sicherheitsrelevante Informationen gegenüber dem TÜV unterschlagen worden (011003). Die inzwischen durchgeführten Untersuchungen vor Ort durch den Schweizer Gutachter "Colenco" hätten die Haltlosigkeit der Vorwürfe ergeben, berichtete der bayerische Umweltminister Werner Schnappauf (CSU) am 7. November.

Das bayerische Umweltministerium wies auch Kritik an dem Gutachter zurück: Die Unabhängigkeit von "Colenco" sei detailliert geprüft worden. Das Unternehmen gehöre zu 90 Prozent leitenden Mitarbeitern. Die Energiekonzerne RWE und EdF seien lediglich mit jeweils rund ein Prozent indirekt an Colenco beteiligt (DPA, 8.11.). <

Bundesumweltministerium überprüft "Meldekultur" in Biblis

Wie das Bundesumweltministerium am 5. November mitteilte, gab es im Kernkraftwerk Biblis A wiederholt Probleme beim Hochfahren der Notspeisepumpen, ohne daß dies ordnungsgemäß gemeldet worden sei. Erst auf Nachfrage habe das Ministerium davon erfahren. Die Bundesaufsicht werde deshalb die "Meldekultur" des Betreibers von Biblis A überprüfen und habe der hessischen Atomaufsicht einen entsprechenden Fragenkatalog vorgelegt