September 2010 |
100901 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die noch nicht verbrauchten Reststrommengen der 17 deutschen Kernkraftwerke (blau) werden vor allem für die zehn neueren Rektoren beträchtlich aufgestockt (rot). Auf Basis einer durchschnittlichen Jahresproduktion verlängern sich so die Laufzeiten für die sieben ältesten Kernkraftwerke um acht und die der zehn neueren Reaktoren um 14 Jahre (Details siehe Tabelle). |
Die Bundesregierung aus Union und FDP hat die Revision des Atomausstiegs, die sie vor knapp einem Jahr im Koalitionsvertrag ankündigte (091001), nun endlich präzisiert. Am 6. September gab sie bekannt, daß sie den KKW-Betreibern eine Laufzeitverlängerung um durchschnittlich zwölf Jahre gewähren werde. Die sieben Kernkraftwerke, die bis 1980 gebaut wurden, dürfen demnach acht Jahre länger am Netz bleiben. Für die zehn neuere Reaktoren beträgt die Laufzeitverlängerung 14 Jahre. Die einzelnen Kernkraftwerke erhalten ihrer durchschnittlichen Jahreserzeugung entsprechende zusätzliche Reststrommengen, die der Vereinbarung als Anlage 3a beigefügt sind und mit der 11. Novellierung des Atomgesetzes exakt so in den Gesetzestext übernommen werden sollen (100904). Die neue Reststrommenge bemißt sich dann nach dieser neuen Anlage 3a des Atomgesetzes zuzüglich der noch nicht abgearbeiteten Reststrommengen gemäß der alten Anlage 3 AtG.
Wie lange die einzelnen Reaktoren tatsächlich am Netz bleiben, hängt allerdings von der mehr oder weniger schnellen Abarbeitung der erhöhten Reststrommengen ab, die wie bisher aufgrund von § 7 Absatz 1b des Atomgesetzes auch übertragen werden können (siehe Tabelle). Beispielsweise erwägt die EnBW bereits die Stillegung ihres ältesten Reaktors Neckarwestheim 1. Bei Übertragung von dessen Reststrommenge auf Neckarwestheim 2 könnte dann dieser Reaktor bis in die vierziger Jahre betrieben werden. Ebenso könnte RWE die Reststrommengen der umstrittenen Alt-Reaktoren Biblis A und Biblis B auf Gundremmingen oder Emsland übertragen.
Die Laufzeitenverlängerung ist das Ergebnis einer Übereinkunft mit den vier KKW-Betreibern E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW, mit deren Vorständen die Regierung in der Nacht vom 5. zum 6. September per Konferenzschaltung verhandelte. Als die Bundeskanzlerin Angela Merkel am Morgen des 6. September vor die Presse trat, verschwieg sie diesen Hintergrund jedoch. Sie präsentierte die Laufzeiten-Verlängerung als Bestandteil des gleichzeitig veröffentlichten Entwurfs eines "Energiekonzepts" der Bundesregierung (100902). Daß es eine schriftliche Vereinbarung mit den Energiekonzernen gab, wurde erst am folgenden Tag bekannt, weil sich das RWE-Vorstandsmitglied Rolf Martin Schmitz bei einer Pressekonferenz verplapperte und das Papier erwähnte. Auch sonst gut informierte Medien tappten aber weiterhin im Dunkeln, was die Einzelheiten der Vereinbarung betraf. So berichteten die "Süddeutsche Zeitung" und die "Financial Times Deutschland" noch am 9. September, daß aufgrund dieses Papiers höhere Belastungen auf die KKW-Betreiber zukommen würden als bisher angenommen.
Erst nach zunehmender Kritik an dem "Geheimvertrag" veröffentlichte die Bundesregierung am Abend des 9. September den Text der Vereinbarung, die unter dem Titel "Förderfondsvertrag: Term Sheet aus Besprechung Bund und EVU" am 6. September um 4.30 Uhr morgens fixiert worden war (siehe Link). Zugleich wies sie den Vorwurf zurück, sie habe den Text geheimhalten wollen. In der Tat hätte sich das Papier auf Dauer kaum verheimlichen lassen, da es die vertragliche Vorgabe für eine entsprechende Änderung des Atomgesetzes darstellt. Offenbar wollte die Bundesregierung aber das aktuelle Medienecho steuern, indem sie die Laufzeiten-Verlängerung im Rahmen ihres Energiekonzepts präsentierte. Sie konnte so die wenig glanzvollen Details ihrer Übereinkunft mit den Energiekonzernen vorerst verschweigen und den Eindruck erwecken, als ob die Energiekonzerne nicht Verhandlungspartner, sondern Adressat einer politischen Entscheidung gewesen seien.
Tatsächlich haben die KKW-Betreiber bei den Verhandlungen eine erhebliche Reduzierung und zeitliche Beschränkung der geplanten Steuer auf Brennelemente erreicht und müssen nur eine mäßige Gegenleistung für die Laufzeitenverlängerung erbringen. Es handelt sich um einen "Förderbeitrag" zur Finanzierung des neuen Energiekonzepts der Bundesregierung. In den Jahren 2011 und 2012 beläuft sich dieser Förderbeitrag auf jeweils 300 Millionen Euro, in den folgenden vier Jahren auf 200 Millionen Euro. Ab 2017 sollen die KKW-Betreiber dann pro Megawattstunde Atomstrom eine Abgabe von etwa neun Euro leisten, deren genaue Höhe von der Entwicklung des Börsenstrompreises und des Verbraucherpreisindexes abhängt.
Die KKW-Betreiber dürfen diese Förderabgabe mit allen Kosten verrechnen, die ihnen aus nicht abgesprochenen Belastungen der Kernenergie entstehen. Neben einer Veränderung der vereinbarten Reststrommengen gehören dazu Nachrüstungs- und Sicherheitsanforderungen, soweit sie 500 Millionen Euro pro Kernkraftwerk überschreiten.
Hinzu bedingten sich die KKW-Betreiber aus, daß eine "Kernbrennstoffsteuer oder eine ähnliche Steuer" höchstens 145 Euro pro Gramm Kernbrennstoff beträgt und lediglich für den Zeitraum von 2011 bis 2016 gilt. Unabhängig davon wollen sie sich die Möglichkeit einer Klage gegen die geplante Steuer auf Brennelemente offenhalten.
Die von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ursprünglich geplante Abgabe von 220 Euro pro Gramm Kernbrennstoff (100704) ist damit hinfällig geworden. Der Ertrag der Steuer wird um gut ein Drittel niedriger sein. Dennoch spricht die Koalition weiterhin von zusätzlichen Einnahmen in Höhe von jährlich 2,3 Milliarden Euro. Sie argumentiert damit, daß die neue steuerliche Belastung zwar eine gewinnmindernde Belastung darstellt und damit den Ertrag der von den KKW-Betreibern zu zahlenden Körperschaftssteuer schmälere. Zugleich sorge aber die Verlängerung der Laufzeiten für höhere Gewinne der Konzerne und damit auch für höhere Einnahmen von Bund und Ländern aus der Körperschaftssteuer.
Die Bundesregierung vertritt ferner die Ansicht, daß mit der Steuer von 145 Euro pro Gramm Kernbrennstoff und den vereinbarten "Förderbeiträgen" mehr als die Hälfte der Zusatzgewinne abgeschöpft würden, die von den Energiekonzernen aufgrund der Laufzeitverlängerung erzielt werden. "An die 60 Prozent der Gewinne müssen die Kraftwerksbetreiber abgeben", behauptete Regierungssprecher Steffen Seibert am 10. September. Das Freiburger Öko-Institut veranschlagte die Höhe der Abschöpfung dagegen eher auf vierzig Prozent. Allein schon durch die längere Nutzungsmöglichkeit der Rückstellungen für Stillegung, Rückbau und Entsorgung (100609) könnten sich für die KKW-Betreiber zusätzliche Erträge von 20 Milliarden Euro ergeben (siehe Link).
Die erhebliche Verlängerung der Laufzeiten bedeutet eine Abkehr vom Atomkonsens, den im Jahre 2000 die damalige Koalition aus SPD und Grünen mit den Energiekonzernen vereinbarte (000601) und zwei Jahre später durch eine entsprechende Neufassung des Atomgesetzes rechtlich verbindlich werden ließ (020404). Im Bundesrat verfügt die schwarz-gelbe Koalition seit den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen über keine Mehrheit mehr (100509, 100710). Um die nun anstehende Gesetzesänderung allein mit ihrer Mehrheit im Bundestag und ohne Zustimmung der Ländervertretung über die parlamentarische Bühne bringen zu können, will sie deshalb mit der 11. Novellierung des Atomgesetzes zugleich die Länder aus ihrer Mithaftung bei nuklearen Unfällen entlassen (100904).
Die Oppositionsparteien sind dagegen weiterhin der Ansicht, daß eine Verlängerung der Laufzeiten in jedem Falle der Zustimmung des Bundesrats bedürfe. SPD und Grüne bekräftigten nach Bekanntwerden des Einigungspapiers ihre Absicht, eine entsprechende Verfassungsklage zu erheben. "Die Linke" schloß nicht aus, daß sie sich dieser Klage anschließen werde. Am 19. September demonstrierten mit Unterstützung der drei Oppositionsparteien mehrere zehntausend Menschen in Berlin gegen die Atompolitik der Bundesregierung.
Eigentümer (1) | Im Atomgesetz zugestandene Reststrommenge ab Januar 2000 in GWh (2) | Noch verfügbare Reststrommenge ab August 2010 in GWh |
Jetzt vereinbarte zusätzliche Reststrommenge in GWh (3) |
Neue Reststrommenge ab August 2010 in GWh | Mögliche Laufzeit bis zum Jahr (4) | Beginn des kommerziellen Leistungsbetriebs (3) | Gesamte Laufzeit in Jahren ca. | ||
Biblis A | RWE | 62000 | 7080,28 | 68617 | 75697,28 | 2018 | 1975 | 43 | |
Neckarwestheim 1 | EnBW | 57350 | 942,93 | 51000 | 51942,93 | 2018 | 1976 | 42 | |
Biblis B | RWE | 81460 | 13129,55 | 70663 | 83792,55 | 2018 | 1977 | 41 | |
Brunsbüttel | Vattenfall (66,7%), E.ON (33,3%) | 47670 | 10999,67 | 41038 | 52037,67 | 2020 | 1977 | 43 | |
Isar 1 | E.ON | 78350 | 5725,28 | 54984 | 60709,28 | 2019 | 1979 | 40 | |
Unterweser | E.ON | 117980 | 17681,19 | 79104 | 96785,19 | 2020 | 1979 | 41 | |
Philippsburg 1 | EnBW | 87140 | 12757,4 | 55826 | 68583,4 | 2020 | 1980 | 40 | |
Grafenrheinfeld | E.ON | 150030 | 46400,14 | 135617 | 182017,14 | 2028 | 1982 | 46 | |
Krümmel | E.ON (50%), Vattenfall (50%) | 158220 | 88245,11 | 124161 | 212406,11 | 2033 | 1984 | 49 | |
Gundremmingen B | RWE (75%), E.ON (25%) | 160920 | 54163,31 | 125759 | 179922,31 | 2030 | 1984 | 46 | |
Philippsburg 2 | EnBW | 198610 | 85570,97 | 146956 | 232526,97 | 2032 | 1985 | 47 | |
Grohnde | E.ON | 200900 | 86460,48 | 150442 | 236902,48 | 2032 | 1985 | 47 | |
Gundremmingen C | RWE (75%), E.ON (25%) | 168350 | 62391,72 | 126938 | 189329,72 | 2030 | 1985 | 45 | |
Brokdorf | E.ON (80%), Vattenfall (20%) | 217880 | 99180,61 | 146347 | 245527,61 | 2033 | 1986 | 47 | |
Isar 2 | E.ON | 231210 | 109950,01 | 144704 | 254654,01 | 2034 | 1988 | 46 | |
Emsland | RWE (87,5%), E.ON (12,5%) | 230070 | 113972,07 | 142328 | 256300,07 | 2034 | 1988 | 46 | |
Neckarwestheim 2 | EnBW | 236040 | 124100,93 | 139793 | 263893,93 | 2036 | 1989 | 47 | |
Summe | 2484180 | 938751,65 | 1804278 | 2743029,65 | |||||
Seit Januar 2000 stillgelegte Kernkraftwerke | |||||||||
Stade (5) | E.ON, Vattenfall | 23180 | |||||||
Obrigheim (6) | EnBW | 8700 | 1972 | ||||||
Mülheim–Kärlich (7) | RWE | 107250 | 1969 | ||||||
Gesamtsumme | 2623310 | ||||||||
(2) gemäß Atomgesetz Anlage 3 (3) gemäß Anlage 3a des Einigungspapiers vom 6.9.2010 (4) Angaben des Bundesumweltministeriums unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Jahresproduktion; maßgeblich ist jedoch die Abarbeitung der festgelegten Reststrommengen, die auch übertragen werden können. (5) Das Kernkraftwerk Stade ging am 14. November 2003 außer Betrieb und wurde am 7. September 2005 stillgelegt (031107). Die verbliebene Reststrommenge vom Kernkraftwerk Stade von 4785,53 GWh wurde am 11. Mai 2010 auf das Kernkraftwerk Biblis A übertragen (100509). (6) Das Kernkraftwerk Obrigheim ging am 11. Mai 2005 außer Betrieb und wurde am 28. August 2008 stillgelegt (050503). Die verbliebene Reststrommenge vom Kernkraftwerk Obrigheim von 0,11 GWh (021002) wurde auf das Kernkraftwerk Philippsburg 1 zurückübertragen. (7) Bei den Verhandlungen über den Atomausstieg ließ sich RWE den Verzicht
auf die Wiederinbetriebnahme des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich mit einem
zusätzlichen Kontingent von 107,25 TWh honorieren (000601).
Laut § 7 Absatz 1c des Atomgesetzes
darf eine Übertragung dieses Kontingents aber nur auf Emsland, Neckarwestheim
2, Isar 2, Brokdorf, Gundremmingen B und C sowie bis zu 21,45 TWh auf den Reaktor
Biblis B erfolgen. Mit Schreiben vom 30. Juni 2010 hat RWE die Übertragung von 8,1
TWh auf Biblis B angezeigt. Die Reststrommenge von Biblis B betrug vor der Übertragung
zuletzt 5,9 TWh. |