Oktober 2010 |
101002 |
ENERGIE-CHRONIK |
Unter heftigem Protest der Oppositionsparteien billigte der Bundestag am 28. Oktober mit den Stimmen von Union und FDP die beiden Novellen zum Atomgesetz, mit denen die Laufzeit der 17 deutschen Kernkraftwerke verlängert und die Enteignung von Grundstückseigentümern für den Bau von Endlagern erleichtert wird (100904). Mit derselben Mehrheit beschloß das Parlament außerdem die Einführung einer Steuer auf Brennelemente (100704) und die Errichtung eines Sondervermögens "Energie- und Klimafonds" aus der mit den Kernkraftwerksbetreibern vereinbarten "Förderabgabe" (100901).
Die wichtigste Änderung des Atomgesetzes ist die Neufassung der in der Anlage 3 genannten Elektrizitätsmengen, die jedes Kernkraftwerk abarbeiten darf. Den in der alten Anlage genannten Mengen werden hier die Terawattstunden hinzugefügt, die Anfang September mit den vier Konzernen ausgehandelt wurden. Um die sonst notwendige Zustimmung des Bundesrats zu dem Gesetz zu umgehen, werden in § 34 sowie durch Streichung des § 36 die Länder aus der Haftung für nukleare Unfälle entlassen.
Eine weitere gravierende Änderung sind die neu eingefügten §§ 9d bis 9f. Sie erleichtern die Enteignung von Grundstückseigentümern zum Bau von Endlagern für radioaktive Abfälle sowie die vorbereitende "Erkundung" von möglichen Standorten. Faktisch will die Bundesregierung damit vor allem die Arbeiten in Gorleben zum Abschluß bringen.
Ferner wird der § 19a neu gefaßt, der eine Sicherheitsüberprüfung der Anlagen gemäß Anlage 4 vorschreibt. Nach der bisherigen Regelung hätten je nach Alter der Anlage von 2011 bis 2019 die letzten Sicherheitsüberprüfungen stattgefunden, da man ja von der sukzessiven Abschaltung der Reaktoren ausging. Nunmehr folgt auf die in der Anlage 4 genannten Termine nicht nur einmal, sondern alle zehn Jahre eine erneute Überprüfung.
Der Diskussion und Beschlußfassung im Bundestag war am 26. Oktober eine turbulente Sitzung des Umweltausschusses vorausgegangen, in der die Oppositionsparteien zahllose Fragen und Geschäftsordnungsanträge stellten. Die schwarz-gelbe Koalition sah darin nichts weiter als den Versuch, die Billigung des Gesetzespakets im Bundestag zu verzögern. Sie blockte mit ihrer Mehrheit weitere Vorstöße ab und erzwang so die Verabschiedung der vier Gesetzesvorlagen durch den Ausschuß.
Die zwei Tage später stattfindende Bundestagsdebatte begann deshalb mit einer Geschäftsordnungsdebatte, in der sich die Opposition massiv beschwerte. "Was wir am Dienstag im Umweltausschuß erlebt haben, war ein Putsch gegen die Rechte der Opposition", erklärte der grüne Abgeordnete Volker Beck. "Es war ein Bruch von Verfassung und Geschäftsordnung des Hohen Hauses." Für die SPD meinte Thomas Oppermann: "Diese vier Gesetze werden unwiederbringlich mit dem Makel behaftet sein, dass bei ihrer Verabschiedung die Minderheitenrechte mißachtet und daß sie mit der parlamentarischen Brechstange durchgesetzt worden sind."
Der FDP-Abgeordnete Jörg van Essen hielt dagegen: "Das, was ich dort erlebt habe, könnte man als Kindergarten bezeichnen, aber das wäre eine Beleidigung für alle wohlerzogenen Kinder in unserem Lande, die solche Einrichtungen besuchen." In diesem Zusammenhang mokierte sich van Essen auch über die Grünen-Fraktion, die demonstrativ in schwarzer Trauerkleidung erschienen war: "Es hat keinem Parlament in der Geschichte gutgetan, wenn eine Fraktion einheitlich gekleidet aufgetreten ist."
In der anschließenden Debatte warf Sigmar Gabriel (SPD) der schwarz-gelben Regierung vor: "Sie eröffnen erneut einen gesellschaftlichen Großkonflikt, den wir schon einmal in mühsamer Arbeit über viele Jahre gelöst hatten. Sie spalten die Gesellschaft, obwohl sie sich in diesem Punkt schon einig war." Die Verlängerung der Laufzeiten schaffe Wettbewerbsvorteile für die "vier Dinosaurier der Energiewirtschaft". Die schwarz-gelbe Koalition schädige damit die Stadtwerke und andere kleinere Energieunternehmen. "Das, was Sie hier abliefern, ist nichts anderes als eine Auftragsarbeit der Atomindustrie."
Für die Linke kritisierte Gregor Gysi die Geheimverhandlungen mit den vier Konzernen, deren Ergebnisse nun unter Verletzung der Geschäftsordnung im Parlament "durchgezockt" würden: "Nachdem die Bundesregierung alles ausgehandelt hat, kommt sie zu ihren beiden Fraktionen, weil sie die Mehrheit haben, und sagt: Ihr dürft kein Komma mehr ändern; denn wenn ihr noch ein Komma ändert, dann stimmt unsere ganze Vereinbarung nicht mehr. – Sie sind entmachtet worden. Das ist der eigentliche Skandal, der hier im Bundestag passiert ist."
Gysi warf der Regierungskoaliton ferner die bewusste Planung eines Verfassungsbruchs vor, indem sie den Bundesrat nicht beteiligen will: "Sie planen den Verfassungsbruch nur deshalb ein, weil Sie wissen, dass Sie im Bundesrat keine Mehrheit haben. Das kann ein Bundesverfassungsgericht Ihnen nicht durchgehen lassen. Dann wird Ihre ganze Gesetzgebung wieder platzen. Das hoffe ich zumindest."
Für die Grünen kritisierte der ehemalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin unter anderem die Personalpolitik seines Nachfolger Norbert Röttgen (CDU), wie sie in der Ernennung von Gerald Hennenhöfer zum neuen Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit (091217) und der Berufung des entlassenen Vattenfall-Kernenergiechefs Bruno Thomauske (070701) in ein Gutachter-Gremium zu Gorleben zum Ausdruck komme: "Sie übernehmen schlicht und ergreifend die Sicherheitsvorstellungen der Atomkraftwerksbetreiber. Das ist der einzige Grund, warum Sie Herrn Hennenhöfer von E.ON zurückgeholt haben. Das gilt im übrigen auch für die Endlagerfrage. Wie kann man auf die Idee kommen, einen wegen Unfähigkeit in den Fällen Brunsbüttel und Krümmel von Vattenfall gefeuerten Atommanager zu beauftragen, die Sicherheit von Gorleben zu beurteilen? Das zeigt doch den ganzen Abgrund von Lobby- und Klientelpolitik."