Oktober 2019 |
191002 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die KKW-Betreiber E.ON, RWE und EnBW fordern vom Staat insgesamt 276 Millionen Euro für angebliche Investitionen, die sie im Vertrauen auf die zum 1. Januar 2011 in Kraft getretene Laufzeiten-Verlängerung für alle deutschen Kernkraftwerke (100901) getätigt haben wollen und die durch den zehn Wochen später erfolgten atompolitischen Kurswechsel der Bundesregierung (110303) entwertet worden seien. Sie berufen sich dabei auf die Entschädigungsregelung in § 7e des Atomgesetzes, die der Bundestag im Juni 2018 beschloss (180601). Dies bestätigte das Bundesumweltministerium gegenüber der "taz" (30.9.), die durch den grünen Haushaltspolitiker Sven Kindler vom Eingang der Forderungen erfahren hatte. Die Anträge würden derzeit "eingehend geprüft". Vorsorglich sei im Haushalt 2020 bereits eine Summe von 250 Millionen Euro eingestellt worden.
Die erwähnte Entschädigungsregelung gewährt den KKW-Betreibern "einen angemessenen Ausgleich in Geld", soweit sie in der Zeit vom 28. Oktober 2010 bis zum 16. März 2011 Investitionen vorgenommen haben sollten, die allein aufgrund der Rücknahme der Laufzeiten-Verlängerung wertlos geworden sind. Die größte Summe verlangt offenbar der E.ON-Konzern, der dazu aber keine Angaben machen wollte. RWE und EnBW sprachen jeweils von einem "mittleren zweistelligen Millionenbetrag". Vattenfall hat in dieser Hinsicht keine Forderungen angemeldet.
Davon zu unterscheiden ist die Entschädigungsregelung in § 7f des Atomgesetzes, die den KKW-Betreibern einen finanziellen Ausgleich für Reststrommengen gewährt, die bis 31. Dezember 2022 nicht erzeugt oder nicht auf ein anderes Kernkraftwerk übertragen werden. In diesem Fall dürften die Forderungen der KKW-Betreiber mehrfach höher sein. Da die Schlusstermine für die einzelnen Reaktoren, die dem Atomgesetz 2011 hinzugefügt wurden, nicht mit den jeweiligen Reststrommengen harmonieren, könnten sie eine Milliarde erreichen und überschreiten. Das Gesetz macht deshalb die Entschädigung davon abhängig, dass die KKW-Betreiber sich zuvor um einen konzernübergreifenden Ausgleich der noch unverbrauchten Reststrommengen bemüht haben. Bisher kam es aber nur zwischen Vattenfall und E.ON zu einer solchen Vereinbarung, mit der 10.000 Gigawattstunden vom stillgelegten KKW Krümmel auf das noch in Betrieb befindliche KKW Grohnde übertragen wurden. Dabei spielte auch eine Rolle, dass der erwähnte Paragraph den finanziellen Ausgleich für das KKW Krümmel auf die Hälfte der verbliebenen Reststrommenge beschränkt (190907).
Beide Regelungen wurden 2018 dem Atomgesetz eingefügt, nachdem das Bundesverfassungsgericht dessen Neufassung aus dem Jahr 2011 beanstandet hatte (161201). Mit der Novellierung hatte die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung nach der Katastrophe von Fukushima die soeben beschlossene Laufzeitenverlängerung für alle 17 deutschen Reaktoren rückgängig gemacht (110601). Stattdessen galt nun wieder die alten Reststrommengen-Regelung, wie sie im Jahr 2000 mit den KKW-Betreibern vereinbart wurde (000601). Zugleich sollte aber der Eindruck einer reumütigen Rückkehr zum Konzept der rot-grünen Vorgängerregierung vermieden werden. Die Novellierung enthielt deshalb scheinradikale Zutaten, die den Eindruck erwecken sollten, als ob es nun mit dem Ausstieg aus der Kernenergie besonders schnell vorangehen würde. Die eine Zutat war die sofortige Stillegung der sieben ältesten Kernkraftwerke zuzüglich des KKW Krümmel, die andere die zusätzliche Einführung von exakten Stillegungs-Terminen für jeden einzelnen Reaktor.
Tatsächlich wurde mit diesen Zutaten aber der Ausstieg aus der Kernenergie verlangsamt statt beschleunigt, denn mit den acht vorzeitig stillgelegten Reaktoren entfielen entsprechende Kapazitäten, um die nach wie vor gültigen Reststrom-Mengen möglichst schnell abarbeiten zu können. Und die Schlusstermine waren so unüberlegt festgesetzt worden, dass sie mit der Abarbeitung der Reststrommengen kollidierten, die in jedem Fall Vorrang hatten (siehe Hintergrund, Dezember 2016). Die Zutaten erwiesen sich damit nicht nur als überflüssig und kontraproduktiv, sondern boten den KKW-Betreibern auch die Handhabe zu Schadenersatzklagen. Entsprechende Verfassungsbeschwerden lagen in Karlsruhe seit Ende 2011 vor (120714).
Der einfachste Ausweg aus diesem Dilemma, auf den auch das Bundesverfassungsgericht in seinem fünf Jahre später ergangenen Urteil verwies, wäre die Abschaffung der Schlusstermine gewesen. Wenn man dann noch die KKW-Betreiber zum konzernübergreifenden Ausgleich ihrer Reststrommengen verpflichtet hätte, wären die drei letzten Kernkraftwerke allenfalls ein paar Wochen länger gelaufen, anstatt exakt zum 31. Dezember 2022 abgeschaltet zu werden. Darauf wollte sich aber die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten nicht einlassen. Sie hielt geradezu fetischistisch an den Schlussterminen fest und sah in den dadurch notwendigen Entschädigungszahlungen das kleinere Übel (180501). Viele Volksvertreter hatten wahrscheinlich nur vage Vorstellungen davon, wie der Ausstiegs-Mechanismus funktioniert. Noch entscheidender dürfte aber die panische Angst gewesen sein, dass der Durchschnittswähler so etwas erst recht nicht kapiert und deshalb die Abschaffung der Schlusstermine als Einknicken vor der Atomlobby wenn nicht gar als Ausstieg aus dem Ausstieg empfinden würde (siehe Hintergrund, Mai 2018).
Die jetzt eingereichten Forderungen der KKW-Betreiber wegen angeblich entwerteter Investitionen werden deshalb nur das Vorspiel zu größeren Entschädigungen sein, die sie ab 2023 geltend machen können – und die man sich wirklich hätte sparen können.