Dezember 2020

201211

ENERGIE-CHRONIK


Energiehändler wegen Betrugs mit Emissionszertifikaten vor Gericht

Vor dem Landgericht Leipzig muss sich derzeit der Energiehändler Thomas Pilgram verantworten, der in der Energieszene jahrelang als Fachmann und Interviewpartner mit besonderer Expertise geschätzt wurde. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Beteiligung an einem betrügerischen Umsatzsteuerkarussell vor, das einen Schaden von über 75 Millionen Euro verursachte. Für seine Mitwirkung soll er eine Million Euro Schmiergeld erhalten haben. Die Hauptverhandlung begann bereits am 9. September. Bis Ende März sind 15 weitere Verhandlungstage vorgesehen. Bekannt wurde das Verfahren allerdings erst durch den Bericht "Steuerraub in Milliardenhöhe" des ZDF-Fernsehmagazins "Frontal 21" vom 1. Dezember, in dem Pilgram unter dem Pseudonym "Dr. Z." figurierte, sowie durch einen am folgenden Tag veröffentlichten Bericht des Internet-Wirtschaftsmagazins "Business Insider", das den Klarnamen und weitere Details aus der gemeinsamen Recherche beider Medien enthielt.

Emissionshandel war zwölf Jahre lang klimapolitisch wirkungslos, wurde aber zu einer Goldgrube für Kriminelle

Es handelt sich um eines der letzten Verfahren zur Aufarbeitung des betrügerischen Handels mit Europäischen Emissionszertifikaten (EUA), die ab 2005 in allen EU-Ländern ausgegeben wurden, um die CO2-Emissionen der Kraftwerke und anderer industrieller Großfeuerungsanlagen zu mindern (041211). Dieser Handel war zunächst nur eine Art Alibi-Veranstaltung. Er blieb zwölf Jahre lang praktisch wirkungslos, weil es in Brüssel wie auch auf nationaler Ebene am politischen Willen fehlte, die für eine klimapolitische Wirkung notwendige Verknappung der Zertifikate tatsächlich herbeizuführen (siehe Hintergrund, November 2017). Stattdessen entdeckten Kriminelle die Zertifikate als ideales Medium für grenzüberschreitende Umsatzsteuer-Karusselle, bei denen eine Ware so schnell rotiert, dass die Finanzämter irrtümlich Umsatzsteuern erstatten, die nie bezahlt wurden. Bis dahin mussten solche Betrügereien mit Mobiltelefonen, Speicherchips, Edelmetallen, Parfums oder ähnlichen Waren inszeniert werden, die sich ohne große Transportkosten und sonstigen Aufwand schnell umschlagen lassen. Emissionszertifikate oder auch Stromhandelskontrakte haben demgegenüber den noch größeren Vorteil, nur in elektronischen Registern zu existieren. Als rein virtuelle Ware lassen sie sich deshalb ohne materiellen Aufwand und blitzschnell von einem Besitzer auf den anderen übertragen, um die Finanzbehörden zu überfordern und in die Irre zu führen. Trotz ihrer klimapolitischen Unwirksamkeit wurden die Emissionszertifikate deshalb überaus lebhaft gehandelt. Die kriminellen Aktivitäten hatten zeitweilig sogar den weitaus größten Anteil an dem Leerlauf, mit dem das Emissionshandelssystem jahrelang den Anschein erweckte, doch nicht ganz wirkungslos zu sein (140406). Nach Aufdeckung dieser neuen Betrugsvariante und ihrer Eindämmung durch Ausweitung der "Reverse-Charge"-Regelung im Umsatzsteuerrecht ging der Emissionshandel schlagartig um bis zu neunzig Prozent zurück (091204).

Pilgram wusste offenbar, dass er sich mit "Betrügern" und "Gangstern" treffen würde

Die Hintermänner dieser Umsatzsteuer-Karusselle versteckten sich in der Regel hinter schwachbrüstigen Firmen, die aus nicht viel mehr als einem Briefkasten oder einem Büro bestanden und nach vollendetem Betrug von der Bildfläche verschwanden. Umso wichtiger war es für sie, auch äußerlich honorige Unternehmen miteinzubeziehen. Als Lockmittel dienten entsprechende Gewinnspannen beim Zwischenhandel. Zum Beispiel wurden so Abteilungen der Deutschen Bank oder der Energie Baden-Württemberg eingebunden (100411, 120613). Bei wissentlicher Mitwirkung konnte das die Verantwortlichen ins Gefängnis bringen (180512). Es gab aber auch Fälle, wo die Zwischenhändler die wahren Konturen des ihnen vorgeschlagenen profitablen Geschäfts möglicherweise nicht erkannt haben, als sie sich in das Karussell einspannen ließen.

Dem jetzt in Leipzig angeklagten Energiehändler Thomas Pilgram dürfte es indessen schwer fallen, eine derartige Ahnungslosigkeit geltend zu machen, als er im Dezember 2009 und im März 2010 in die Vereinigten Arabischen Emirate flog, um sich dort in Dubai und Abu Dhabi mit den Hintermännern eines solchen Umsatzsteuer-Karussells zu treffen. Laut "Frontal 21" und "Business Insider" wusste er über seine Geschäftspartner vorab Bescheid. Dies ergebe sich aus SMS-Nachrichten, die er mit einer Kollegin wechselte, die ihn auf der Reise nach Dubai begleitete. Auf deren Frage "Wann triffst Du Dich mit den Kriminellen?" habe seine Auskunft gelautet: "Jetzt um 3 mit den ersten". Am nächsten Tag habe die Kollegin gefragt "Wie ging es mit den Betrügern heute?", und er habe geantwortet: "Jetzt bin ich mit dem Gangster von gestern essen, er will Gashandel mit uns machen, mal sehen…". Später seien dann von einem Konto, das Pilgram bei einer Bank in Abu Dhabi unterhielt, eine Million Euro nach Deutschland überwiesen worden.

Groß-Razzia bei 50 Unternehmen förderte belastendes Material zutage

Der promovierte Volkswirt Pilgram begann seine berufliche Karriere als Referent des Vorstandes der Landesbank Sachsen und war führend am Aufbau der Strombörse EEX in Leipzig beteiligt. Anschließend war er Geschäftsführer mehrerer Energiehandelsunternehmen. Dazu gehörte der Grünstromvermarkter Clean Energy Sourcing GmbH (Clens), über dessen Tochter Becomac die inkriminierten Emissionshandelsgeschäfte in den Jahren 2009 und 2010 abgewickelt wurden. Kurz darauf begann die Staatsanwaltschaft mit ihren Ermittlungen. Den Anstoß gab die großangelegte Razzia bei rund 50 Unternehmen, die am 27. April 2010 stattfand (100411) und nebenbei belastende Hinweise auf die Becomac erbrachte. Auch die Finanzbehörden wurden nun aktiv. Nach eigenen Angaben im "Bundesanzeiger" erhielt die Clean Energy Sourcing GmbH am 27. Januar 2012 vom Finanzamt Leipzig II einen korrigierten Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2010, der wegen der Becomac-Geschäfte eine Nachzahlung von 8,3 Millionen Euro verlangte. Die Geschäftsführung legte demgegenüber Wert auf die Feststellung, "dass sämtliche diesbezüglichen Transaktionen ordnungsgemäß im Jahresabschluss der Gesellschaft und der Tochtergesellschaft abgebildet wurden".

Pilgram repräsentierte bis 2014 im "Rat der Agora" die Energiehandelsbranche

Die Verdachtsmomente gegen den Clens-Geschäftsführer scheinen dann im Windschatten der Ermittlungen gegen andere Beteiligte zunächst nicht sonderlich intensiv verfolgt worden zu sein und drangen auch nicht nach außen. So konnte Pilgram nach Gründung der Initiative "Agora Energiewende" in deren Beratergremium "Rat der Agora" die Energiehandelsbranche repräsentieren, bis er 2014 die Clens-Geschäftsführung aufgab (140915). Außerdem soll er auch Mitglied im Wirtschaftsrat der CDU gewesen sein. Ab 2015 amtierte er als Geschäftsführer der Deutschen Energieversorgung GmbH (DEV), die unter dem Markennamen Senec Stromspeichersysteme anbot. Er behielt diesen Posten, bis Senec 2018 von der Energie Baden-Württemberg übernommen wurde.

Zuletzt wurde Pilgram im Mai 2020 Partner der Unternehmensberatung Conenergy. "Wir sind glücklich mit Thomas Pilgram einen so renommierten Experten für uns gewonnen zu haben", erklärte laut "energate" der Vorstand der Conenergy AG, zu deren Töchtern sowohl die Unternehmensberatung als auch der Branchen-Nachrichtendienst gehören. Pilgram bekleidete diesen neuen Posten aber nur sehr kurz. Im August 2020 teilte die Conenergy AG mit, dass er sich "aus privaten Gründen" zurückgezogen habe. Gemeint war offenbar die bevorstehende Eröffnung des Strafverfahrens vor dem Landgericht Leipzig.

 

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