Januar 2021 |
210101 |
ENERGIE-CHRONIK |
Das kontinentaleuropäische Stromnetz, das am 8. Januar in zwei Zonen zerbrach, umfasst die meisten EU-Staaten sowie die Schweiz und die EU-Anwärter auf dem Balkan. Das Netz der Türkei ist seit 2015 ebenfalls mit ihm synchronisiert. Außerdem gibt es eine Drehstromverbindung mit Marokko, Algerien und Tunesien, die dafür sorgt, dass dort die Netze im selben Takt schwingen. Der Frequenzabsturz in der nordwestlichen Zone machte sich deshalb auch in Nordafrika bemerkbar. |
Der kontinentaleuropäische Stromverbund, der von Portugal bis Polen und von Dänemark bis in die Türkei reicht, zerbrach am 8. Januar eine volle Stunde lang in zwei Gebiete mit unterschiedlicher Netzfrequenz. Die Auftrennung in eine norwestliche und eine südöstliche Zone erfolgte automatisch entlang einer Grenze, die durch Kroatien, den nördlichen Zipfel Serbiens und den nordwestlichen Teil Rumäniens verlief (siehe Grafik 1).
Wie der Dachverband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber (ENTSO-E) am 26. Januar aufgrund seiner bisherigen Ermittlungen bekanntgab, begann die Großstörung um 14.04 Uhr im kroatischen Umspannwerk Ernestinovo, als dort zwei nach Ungarn und Slowenien führende 400-Kilovolt-Leitungen wegen Überlastung automatisch abgeschaltet wurden. Binnen 48 Sekunden unterbrachen daraufhin 13 weitere Umspannwerke in Kroatien, Serbien und Rumänien sämtliche nach Norden führenden Leitungen, weil bei ihnen ebenfalls der Überstromschutz ausgelöst wurde.
Größere Abweichungen von der Sollfrequenz 50 Hertz gab es bis 14.04 Uhr nur durch die "deterministischen Frequenzabweichungen", die der Stromhandel jeweils zur vollen Stunde bewirkt (siehe Hintergrund, August 2019). Zuletzt kam es um 14 Uhr zu einer derartigen Schwankung. Anschließend lag die Netzfrequenz mit 50,02 bis 50,03 Hertz nur geringfügig über dem "Totband" zwischen 49,99 und 50,01 Hertz, in dem keine Nachregelung stattfindet. Dann aber stürzte sie wegen des plötzlichen Auseinanderbrechens des Verbundnetzes in der nordwestlichen Zone bis auf 49,742 Hertz, während sie im südöstlichen Teil bis auf 50,6 Hertz hochschnellte (siehe Grafik 3). |
Das kontinentaleuropäische Stromnetz zerfiel dadurch in zwei Zonen mit unterschiedlicher Versorgungslage und Netzfrequenz: In der nordwestlichen Zone, wo plötzlich Strommangel herrschte, stürzte die Netzfrequenz binnen 14 Sekunden auf 49,742 Hertz, bis die automatisch aktivierte Primärregelung zu greifen begann, die weitere Talfahrt stoppte und sie binnen 21 Sekunden wieder auf 49,85 Hertz brachte. Mithilfe von Sekundär- und Tertiärregelung konnte sie dann in den folgenden Minuten wieder in den Normalbereich nahe 50 Hertz gebracht werden, wobei die normalen Regelmechanismen ab 14.09 durch zusätzliche Lastabschaltungen in Frankreich und Italien sowie durch Stromimporte aus Großbritannien und Skandinavien unterstützt wurden (siehe Grafik 2).
In der südöstlichen Zone gab es dagegen plötzlich einen großen Stromüberschuss. Es kam deshalb zu einem blitzartigen Anstieg der Netzfrequenz bis auf 50,6 Hertz, bevor sich diese auch hier infolge der inzwischen aktivierten Primärregelung bei 50,2 Hertz einpendelte und allmählich weiter sank. Um die zu hohe Erzeugungsleistung zu reduzieren, wurde unter anderem ein Kraftwerk in der Türkei mit 975 MW automatisch abgeschaltet. Es dauerte aber noch bis 15.08 Uhr, ehe sich die Frequenzen beider Systeme soweit angeglichen hatten, dass sie erneut synchronisiert werden konnten (siehe Grafik 3).
Es handelte sich um eine der gravierendsten Netzstörungen der letzten
Jahrzehnte. Dennoch kam es nicht zu Zwangsabschaltungen mit Stromausfällen.
Die Störung konnte oberhalb dieser Schwelle mit dem zur Verfügung
stehenden Instrumentarium behoben werden. Die Auftrennung in zwei kontinentaleurpäische
Zonen mit unterschiedlicher Netzfrequenz sorgte deshalb zwar bei den Netzbetreibern
für Großalarm, wurde aber von den über 400 Millionen Stromverbrauchern
praktisch nicht bemerkt. Von Abschaltungen betroffen waren lediglich etliche
industrielle Großverbraucher in Frankreich (1.300 MW) und Italien (400
MW), die aber mit den dortigen Netzbetreibern RTE und Terna vertragliche Vereinbarungen
zum Lastabwurf in solchen Notfällen getroffen haben.
Die um 14.04 Uhr noch einheitliche Netzfrequenz begann zu zerfallen, als 26 Sekunden später das Umspannwerk Ernestinovo abschaltete. Dies löste eine Kaskade weiterer Leitungsabschaltungen in Kroatien, Rumänien und Serbien aus, wodurch sämtliche grenzüberschreitenden Verbindungen nach dem Norden unterbrochen wurden. In der so entstandenen südöstlichen Zone bewirkte das Überangebot an Strom einen blitzartigen Anstieg der Netzfrequenz, während im nordwestlichen Teil des kontinentaleuropäischen Verbundnetzes Strommangel herrschte und deshalb die Frequenz bis unter die erste Abschaltgrenze von 49,8 Hertz absackte. |
Es war nicht die erste Großstörung im europäischen Netz. Zum Beispiel kam es 2003 in Italien gleich zweimal zu flächendeckenden Stromausfällen, weil das Land nicht in der Lage war, seinen Strombedarf selber zu decken (030714, 030901). Es genügte deshalb schon der ungeschickte Umgang mit einer Leitungsstörung in der Schweiz, damit am 28. September 2003 die gesamte italienische Importlast von 6.700 MW schlagartig entfiel und stattdessen die Frequenz im kontinentaleuropäischen Netz binnen vier Sekunden um 240 Millihertz hochschnellte. In ihrem Abschlußbericht stellten die Übertragungsnetzbetreiber damals fest, dass das europäische Stromverbundnetz nicht für den liberalisierten Markt mit seinen hohen grenzüberschreitenden Stromflüssen angelegt worden sei. Die vorgeschriebenen Sicherheitsreserven seien im wesentlichen unverändert geblieben, aber unter Nutzung von computerisierten Techniken zur Netzsteuerung immer stärker ausgeschöpft worden (040502).
Am 4. November 2006 genügte ebenfalls schon eine Fehlschaltung des Übertragungsnetzbetreibers E.ON (heute TenneT), um das von Stromflüssen überlastete kontinentaleuropäische Stromnetz kollabieren zu lassen. Damals zerfiel es sogar in drei Zonen mit unterschiedlicher Netzfrequenz, wobei mehr als zehn Millionen Menschen duch automatische Lastabschaltungen vorübergehend ohne Strom waren (061101). Der Rat der europäischen Regulierungsbehörden (CEER) kritisierte anschließend die Übertragungsnetzbetreiber, weil sie es versäumt hätten, die Lehren aus dem großen Stromausfall in Italien zu ziehen. Die EU-Kommission sah in der Überlastung der Netze durch den von ihr forcierten Stromhandel ein technisches Problem, das durch noch stärkere Computerisierung der Netztechnik gelöst werden könne, die einen "wirklichen Echtzeitbetrieb" sicherstellt (070205).
Am 10. Januar 2019 kam es zwar nicht zu einem erneuten Auseinanderbrechen des kontinentaleuropäischen Netzes, aber zu einem steilen Frequenzabfall bis zur ersten Abschaltgrenze bei 49,8 Hertz, der gerade noch rechtzeitig gestoppt werden konnte (190214). Die von der ENTSO-E eingeleitete Untersuchung ergab, dass hier zwei Faktoren zusammengewirkt hätten: Der eine sei eine ungewöhnlich große "deterministische Frequenzabweichung" gewesen, wie sie regelmäßig der Stromhandel verursacht, wenn er zur vollen Stunde seine "Fahrpläne" wechselt und damit die Primärregelung strapaziert. Der andere sei eine "eingefrorene Messung" gewesen, die diesen Effekt so verstärkte, dass ihn die Primärregelung nicht mehr rechtzeitig auffangen konnte (siehe Hintergrund, August 2019).