Juli 2022 |
220705 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Großhandels-Gaspreise erreichten im Juli
fast wieder die schwindelerregende Höhe von Anfang März. Noch
spüren die meisten Verbraucher davon nur wenig, weil die
Preise in ihren Lieferverträgen günstiger sind (und auch sein
können, wenn ein Versorger langfristig eingekauft hat). Das
wird sich aber ab Oktober ändern, weil dann der neue
Umlagemechanismus nach § 26 des Energiesicherungsgesetzes die
Gasrechnung um etliche Cent pro Kilowattstunde erhöhen dürfte.
Dadurch sollen die Mehrkosten gleichmäßig verteilt werden, die
den Importeuren bei der der Ersatzbeschaffung von Gas am
überhitzten Markt entstehen.
Quelle: Bundesnetzagentur
|
Zusammen mit dem umfangreichen Paket zum beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren (220703) billigte der Bundestag am 7. Juli das "Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor im Fall einer drohenden Gasmangellage durch Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes und weiterer energiewirtschaftlicher Vorschriften" . Die Lindwurm-Bezeichnung steht für eine Reihe von kurzfristig beschlossenen Vorsorgemaßnahmen, falls Russland seine Gaslieferungen völlig einstellen sollte. Sie sind auf die aktuelle Situation zugeschnitten und gelten befristet bis 31. März 2024. Die Änderungen betreffen das Energiewirtschaftsgesetz (Artikel 1), das Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz (Artikel 2), das Bundes-Immissionsschutzgesetz (Artikel 3) und das soeben erst novellierte Energiesicherheitsgesetz (Artikel 4).
Diese Maßnahme betrifft Kraftwerke, die bereits in der Netzreserve vorgehalten und nicht mit Erdgas betrieben werden oder für die in den Jahren 2022 und 2023 ein Verbot der Kohleverfeuerung gemäß Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) wirksam würde. Bei Ausrufung der Alarmstufe oder der Notfallstufe kann die Bundesregierung per Rechtsverordnung zulassen, dass diese Kraftwerke für einen festgelegten Zeitraum aus der Reserve heraus am Strommarkt teilnehmen. Der Betrieb am Strommarkt erfolgt freiwillig. Am 13. Juli erließ die Bundesregierung auf Basis der Neuregelung eine erste Verordnung, mit der insgesamt 27 Kraftwerken mit einer Leistung von 8 Gigawatt die zeitweilige Rückkehr an den Stromarkt erlaubt wird (siehe 220706).
Die bestehende "Sicherheitsbereitschaft" von stillgelegten Braunkohlekraftwerken wird modifiziert und soll künftig bereits früher als bisher abrufbar sein. Mit Ende der Sicherheitsbereitschaft sollen die Braunkohlekraftwerke temporär bis zum 31. März 2024 in eine neue Versorgungsreserve überführt werden. Bei Vorliegen der Alarm- oder Notfallstufe können die Kraftwerke per Rechtsverordnung der Bundesregierung abgerufen werden, sofern die Situation das erforderlich macht. Erfolgt ein Abruf, kehren sie temporär an den Strommarkt zurück. Die Versorgungsreserve Braunkohle startet laut Gesetz am 1. Oktober 2022. Die erforderliche Rechtsverordnung wird vorbereitet.
Eine Verordnungsermächtigung erlaubt der Bundesregierung, den Betrieb von Gaskraftwerken sehr schnell für die Dauer von maximal neun Monaten zu begrenzen, sobald die Alarm- oder Notfallstufe des Notfallplans Gas ausgerufen wurde. Gas-KWK-Anlagen werden nur noch dann betrieben, wenn es keine Alternative zur Wärmeerzeugung gibt. Für die eingesparten Mengen an Erdgas kann ein Vorkaufsrecht des Marktgebietsverantwortlichen geregelt werden, um die Einspeicherung der Mengen sicherzustellen.
Neben diesen Maßnahmen werden mit dem Gesetz weitere Maßnahmen ergriffen, die zur Reduzierung des Gasverbrauchs in der Stromerzeugung beitragen. Für Gaslieferverträge mit Mindestabnahmemengen wird ein Anpassungsrecht der Abnahmemengen sowie ein Verbot von Vertragsgestaltungen vorgesehen, die den Weiterverkauf von Gas verhindern. Der Zeitraum, um den Kohleersatzbonus nach dem KWKG in Anspruch nehmen zu können, wird bis zum 30. März 2024 verlängert. Außerdem erweitert das Gesetz die Möglichkeit, zur Sicherung der Energieversorgung in einer Verordnung Vorgaben zur Bevorratung mit Brennstoffen zu machen.
Die Änderungen am soeben erst novellierten Energiesicherungsgesetz (220505) erweitern die Handlungsmöglichkeiten der Bundesregierung zur Stärkung der Vorsorge und Marktstabilisierung im Fall einer Gefährdung oder Störung der Energieversorgung. Übergeordnetes Ziel bleibt, die Marktmechanismen und Lieferketten in der Energieversorgung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und Kaskadeneffekte zu verhindern. Mit einer neuen Verordnungsermächtigung sollen Maßnahmen auch vor Eintritt des Krisenfalls und der Einsatz der Bundeslastverteilung getroffen werden können (z.B. schon nach Ausrufung der Frühwarnstufe Gas), sofern dies geboten und erforderlich ist. Möglich sind Maßnahmen zur Energieeinsparung, Maßnahmen bei schienengebundenen Transporten von Energieträgern bzw. Großtransformatoren und Erleichterungen beim Umweltrecht, insbesondere beim Immissionsschutzrecht für Anlagenbetreiber.
Bestehende außerordentlich gesetzliche Preisanpassungsrechte werden präzisiert. So wird im Gesetz klarer als bisher, dass Voraussetzung für Preisanpassungsrechte die Feststellung einer erheblichen Reduzierung der Gesamtgas-Importmengen nach Deutschland durch die Bundesnetzagentur ist und es keine automatische Aktivierung der gesetzlichen Preisanpassungsrechte bei der Ausrufung der Alarm- oder Notfallstufe gemäß dem Notfallplan Gas gibt. Die Bundesregierung will die umstrittenen Preisanpassungsrechte auf diese Weise "mit klaren Leitplanken versehen": Die Preisanpassung muss angemessen sein und darf nicht die Mehrkosten einer Ersatzbeschaffung überschreiten. Betroffene Kunden haben das Recht auf eine unverzügliche fristlose Kündigung des Liefervertrags.
Die Ausübung von Leistungsverweigerungsrechten aufgrund von "höherer Gewalt" - auch als „force majeure“-Fall bezeichnet - wird unter den Vorbehalt der Genehmigung der Bundesnetzagentur gestellt. Dieser Genehmigungsvorbehalt schützt die Abnehmer von Gas vor Liefereinstellungen oder - reduzierungen und damit letztlich die Verbraucher vor Störungen und weiteren Verunsicherungen im Markt.
Alternativ zum bestehenden Preisanpassungsrecht in § 24 des Energiesicherheitsgesetzes wird mit dem neuen § 26 die Verordnungsermächtigung für einen Umlagemechanismus geschaffen. Dadurch können die Mehrkosten für die Ersatzbeschaffung von Gas, die eine unabhängige Instanz ermittelt bzw. anerkennt, über eine Umlage auf alle Gaskunden verteilt werden. Der Ausgleich erfolgt also über sämtliche Gas-Kunden und ist für alle gleich hoch. Dagegen hängt beim Preisanpassungsmechanismus die individuelle Belastung davon ab, welcher Importeur die Preise weiterreicht. Die alternative Lösung kann deshalb im Einzelfall für den Verbraucher sowohl günstiger als auch von Nachteil sein. Im übrigen sollen aber beide Paragraphen dem Ziel dienen, die Marktmechanismen und Lieferketten so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und Kaskadeneffekte zu verhindern.
Die Umlagen-Verordnung soll mit Beginn des neuen Gaswirtschaftsjahres am 1. Oktober in Kraft treten und es beispielsweise Uniper ermöglichen, die enorme Kostenbelastung bei der Ersatzbeschaffung von Gas weiterzugeben. Die ohnehin schon sehr hohen Verbraucherpreise für Gas würden durch die Umlage entsprechend steigen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sprach am 28. Juli von einer voraussichtlichen Mehrbelastung von 1,5 bis 5 Cent pro Kilowattstunde.
"Zur Erweiterung des Instrumentenkastens und um kurzfristige Stabilisierungsmaßnahmen umsetzbar zu machen" werden zeitlich befristet gesellschaftsrechtliche Erleichterungen eingeführt. Damit wird die Durchführung und praktische Umsetzung von Stabilisierungsmaßnahmen bei Unternehmen der Kritischen Infrastruktur im Energiesektor für den Bund erleichtert. Es wird im Gesetz klargestellt, dass die Stabilisierungsmöglichkeiten vorrangig zu den Preismechanismen zu prüfen sind. Konkret geht es hier zunächst vor allem um die Stabilisierung das Gasimporteurs Uniper, die von der Bundesregierung am 22. Juli bekanntgegeben wurde (220702).
Für Unternehmen der Kritischen Infrastruktur im Energiesektor, die unter Treuhandverwaltung des Bundes stehen, werden ergänzende Regelungen für Kapitalmaßnahmen getroffen. Insbesondere werden in Sanierungsverfahren übliche Instrumente zur Optimierung der bilanziellen Situation zugelassen und dadurch Finanzierungen vereinfacht. Konkret betrifft das die ehemalige Gazprom Germania und deren Tochterfirmen, die inzwischen staatlicher Regie unterstellt wurden und als SEFE-Gruppe firmieren (220608).