November 2024 |
241105 |
ENERGIE-CHRONIK |
Mit einem großen Transparent vor dem Gebäude, in dem die atomrechtliche Anhörung stattfand, verlangte die Initiative "Ausgestrahlt" die Verhinderung der Beteiligung des russischen Atomkonzerns an der Brennelemente-Herstellung in Lingen sowie die Schließung der "Atomfabrik". |
Der französische Nuklearunternehmen ANF (Framatome) hat beantragt, in der von ihm betriebenen Brennelementefabrik Lingen hexagonale Brennelemente herstellen zu dürfen, um damit die 18 Reaktoren russischer Bauart bestücken zu können, die es in osteuropäischen EU-Ländern gibt. Im Rahmen des vom niedersächsischen Umweltministerium durchgeführten atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens fand dazu vom 20. bis zum 22. November in Lingen eine dreitägige Anhörung statt, um die rund 11.000 Einwendungen zu erörtern, die gegen das Vorhaben erhoben wurden. Kritik gibt es vor allem daran, dass der russische Atomkonzern Rosatom über ein Joint Venture, das er über seine Tochter TVGL gemeinsam mit dem französischen Brennelemente-Hersteller Framatome gegründet hat, direkt an der Produktion der Brennelemente beteiligt werden soll, beispielsweise auch durch die Entsendung von einschlägigem Personal nach Deutschland.
So sieht die geschäftliche Konstruktion aus, die sich
Framatome und Rosatom ausgedacht haben, damit die Russen direkt an der
Fertigung der Brennelemente in Lingen beteiligt werden können.
Quelle: Gutachten von Prof. Dr. Gerhard
Roller, Juni 2023
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Der staatliche russische Atomkonzern ist alles andere als ein normales Unternehmen. Unter seiner Regie werden sowohl die russischen Atomwaffen gebaut als auch Kernkraftwerke und deren Zubehör. Und selbstverständlich arbeitet er auch eng mit Geheimdienst und Armee zusammen. Die Initiative "Ausgestrahlt"nahm deshalb die Anhörung zum Anlass, um erneut gegen das Projekt zu protestieren. "Damit würde Lingen zur zentralen Drehscheibe der europäischen Atomindustrie - mit Putin am Schalthebel", hieß es in ihrem Aufruf zur Teilnahme an der Anhörung und einer Mahnwache vor dem Gebäude. Die geplante Beteiligung von Rosatom an der Herstellung von Brennelementen in Lingen "würde Russland unvermeidlich Möglichkeiten zu Sabotage, Spionage und Desinformation bieten – nicht nur in Lingen und Deutschland, sondern in allen AKW, die von Lingen beliefert werden". Russland verdiene so weiter an der europäischen Atomstromerzeugung, gewinne trotz des Krieges strategisch an Einfluss und könne ganz nebenbei mögliche Sanktionen unterlaufen. Die deutschen Behörden müssten deshalb ihrer Schutzpflicht endlich nachkommen und die Genehmigung für dieses Vorhaben versagen.
Die speziellen Brennelemente für die osteuropäischen Reaktoren unterscheiden sich von denen westlicher Bauart im wesentlichen nur dadurch, dass sie rechteckig statt viereckig sind. Auch das US-Unternehmen Westinghouse bietet solche hexagonalen Brennelemente an. Vermutlich könnten sie von der Framatome-Tochter ANF in Lingen ebenfalls ohne russischen Beistand hergestellt werden. Framatome behauptet indessen, auf die Einbeziehung von Rosatom nicht verzichten zu können. Und die hexagonalen Brennelemente von Westinghouse würden nicht genau passen. "Die Kooperation mit Rosatom steht im Vordergrund, Alternativen werden nicht in Betracht gezogen", kritisierte eine Sprecherin der Initiative "Ausgestrahlt" gegenüber dem NDR (22.11.). Bei der Anhörung hätten die Framatome-Vertreter "überhaupt nicht ausreichend im Detail geantwortet".
Bis vor kurzem war Rosatom sogar Eigentümer und Betreiber des ehedem wichtigsten nukleartechnischen Unternehmens in Deutschland: Es handelte sich um die ehemalige Nukem in Alzenau bei Hanau, die der RWE-Konzern 2009 im Zuge seines kompletten Rückzug aus der nuklearen Stromerzeugung an den russischen Kernkraftwerksbauer Atomstroyexport verkaufte (091211). Zuvor waren schon 1988 die beiden Nukem-Töchter Alkem und RBU ganz in den Besitz von Siemens übergegangen und firmierten als Brennelementewerk Hanau, das viele Jahre lang im Zentrum der Auseinandersetzungen um die deutschen Kernkraftwerke und die dazugehörige Nuklearindustrie stand (siehe Link-Liste).
Nukem war sozusagen die Keimzelle der deutschen Nuklearwirtschaft. Nach dem Verkauf an Rosatom beschränkte sich die stark geschrumpfte Nukem Technologies mit ihrer Tochter Nukem Technologies Engineerings Services auf das Management von radioaktiven Abfällen und Sonderabfällen, den Rückbau von Kernkraftwerken sowie Ingenieursdienstleistungen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat aber diesem Geschäft derart geschadet, dass Nukem Anfang April dieses Jahres beim Amtsgericht Aschaffenburg Insolvenz in Eigenverwaltung beantragte. Schon zuvor war in Moskau beschlossen worden, sich des unrentabel gewordenen Unternehmens durch einen Verkauf zu entledigen, der es zugleich vom Stigma einer Kreml-Filiale befreien und dadurch einen ordentlichen Erlös garantieren würde. Dies geschah dann durch einen Kaufvertrag mit der in Tokio ansässigen Firma Muroosystems Corp., dessen Unterzeichnung Nukem am 8. Juli bekanntgab. "Der neue Eigentümer gibt NUKEM die Möglichkeit, in die Märkte zurückzukehren, die aufgrund der bisherigen Eigentümerstruktur nicht mehr zugänglich waren", hieß es in der Pressemitteilung. Am 30. September verkündete die Nukem "den erfolgreichen Abschluss ihrer Übernahme" durch das japanische Unternehmen. "Wir freuen uns über die positive Resonanz des Marktes nach der Bekanntgabe unserer neuen Eigentümerschaft", erklärte der Nukem-Geschäftsführer Thomas Seipolt. "Diese Begeisterung bestärkt uns in unserem Vertrauen in das enorme Potenzial dieser Partnerschaft."
Die Freude des Nukem-Geschäftsführers Seipolt war nachvollziehbar, denn der neue japanische Eigentümer befreite ihn vor allem auch persönlich von dem schweren Imageschaden, ein auf der Gehaltsliste von Rosatom stehender Putin-Knecht zu sein. Er ist nämlich zugleich Vorsitzender des "Vereins Kerntechnik Deutschland", der sich als Nachfolger des "Deutschen Atomforums" der Propaganda für eine Neubelebung der Kernenergie in Deutschland verschrieben hat. Als stellvertretender Vorsitzender des Vereins hilft ihm dabei der Geschäftsführer der Framatome GmbH, die als deutscher Ableger des französischen Nuklearunternehmens die Tochtergesellschaft Advanced Nuclear Fuels (AFN) in Lingen betreibt (siehe Hintergrund, Juni 2022).
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