Juni 2022

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


KKW-Lobby nutzt Gaskrise für Stimmungsmache zur Neubelebung der Kernenergie

Die "Frankfurter Allgemeine" setzt sich dabei an die Spitze einer energiepolitischen Gegenreformation

 

Die Gaskrise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine nutzt eine kleine, aber aktive KKW-Lobby verstärkt zur populistischen Stimmungsmache, indem sie auf die verbreitete Unkenntnis energiewirtschaftlicher Zusammenhänge spekuliert und sich selbst als Kompetenzzentrum darstellt. Sie argumentiert damit, dass es doch heller Wahnsinn wäre, die drei letzten Kernkraftwerke zum Jahresende einfach abzuschalten, während zugleich sogar die klimaschädlichen Kohlekraftwerke reaktiviert würden, um das fehlende Gas bei der Stromerzeugung zu ersetzen. Das klingt für viele sehr plausibel. Bei Meinungsumfragen stimmte sogar die Mehrheit dieser Ansicht zu. Das hat wiederum manche Politiker von Union und FDP veranlasst, auf diesen Zug aufzuspringen. Die durchaus fundierte Begründung, mit der die beiden Bundesministerien für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) am 8. März eine solche Laufzeiten-Verlängerung ablehnten (220312), wird von ihnen entweder ignoriert oder als mehr oder weniger falsch bezeichnet.

Die AfD leistete mit ihren populistischen Tiraden nützliche Vorarbeit

Diese Kampagne begann schon im vorigen Jahr, wobei sicher auch die rechtsextreme AfD mit ihrer erneuten Präsenz im Bundestag nützliche Vorarbeit leistete. Wenn die Abgeordneten dieser Partei über den "Zappelstrom" aus erneuerbaren Energien schimpften (181101), gegen die "kommunistische Energiewende" pöbelten (211106) oder die "Aufgabe aller Klimaschutz- und Energiewendeziele" forderten (191015), begleiteten sie das regelmäßig mit Lobgesängen auf Kohle und Kernenergie. Es versteht sich von selbst, dass sie nicht nur den Weiterbetrieb der noch vorhandenen Kernkraftwerke verlangten, sondern auch den Bau neuer Reaktoren. Dies alles disqualifizierte sie zwar in den Augen vernünftiger Menschen, verfehlte aber nicht seine Wirkung auf schlichte Geister, die mit solchen populistischen Tiraden eingefangen werden sollten.

Wurde die gute alte Tante FAZ das Opfer eines Enkeltricks?

Dann bekam diese strunzdumme Agitation jedoch plötzlich so etwas wie eine intellektuelle Spitze, die ein bißchen an die Rolle der Jesuiten bei der Gegenreformation erinnert. Und zwar nicht durch die Leute mit akademischen Titeln, die es – horribili dictu – in der AfD-Bundestagsfraktion sogar häufiger gibt als in den meisten anderen Fraktionen. Auch nicht durch ein Produkt wie "Cicero", das seit langem eine Art geistiges Lifestyle-Magazin mit konservativ-neoliberaler Schlagseite sein möchte (090308) und nun erneut eine Lanze für die Kernenergie brach (211006). Nein, es war vielmehr die gute alte Tante FAZ, die in ihrem 73. Lebensjahr anscheinend einer Variante des Enkeltricks erlag, indem sie falschen Stimmen lauschte und ihnen blindlings vertraute.

"In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie und es passiert nichts Schlimmes"

Diesen Eindruck erweckte jedenfalls bei aufmerksamen Lesern eine ganze Reihe von Artikeln, die nicht mehr als Ausrutscher oder Alleingänge einzelner Kernenergie-Fans in der Redaktion gelten konnten. So gelangte die "FAZ am Sonntag" vom 14. März 2021 zu der umwerfenden Erkenntnis: "Die Nutzung der Kernkraft lässt sich mit einer Wette vergleichen, die man fast immer gewinnt: In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie und es passiert nichts Schlimmes". Am 18. August bekam der Evonik-Chef und Chemieverbandspräsident Christian Kullmann in einem ganzseitigen Interview die Gelegenheit, sich ebenfalls für eine Neubelebung der Kernenergie auszusprechen, weil Wind- und Solarenergie keine sichere Stromversorgung ermöglichen könnten. Am 7. Oktober berichtete das Blatt wohlwollend über eine "Analyse", mit der ein obskurer "Aktionskreis Energie und Umweltschutz" die FDP-Spitze aufforderte, die Laufzeiten-Verlängerung in die Koalitionsverhandlungen einzubringen. Unter der Überschrift "Zweifel am Atomausstieg wachsen" erschien am 19. Oktober  ein weiterer  Artikel, in dem der ehemalige BASF-Chef Jürgen Hambrecht seine schon immer bekannte Unzufriedenheit mit dem Atomausstieg nochmals ausdrücklich der FAZ anvertrauen durfte und es für ratsam hielt, "über die möglichen Vorteile der Kernenergie noch einmal neu nachzudenken". Am 21. Oktober folgte dann auf der ersten Seite endlich ein wuchtiger Paukenschlag in Form eines Leitartikels unter der Überschrift "Die Atom-Diskussion wagen!", Hier wurde dann auf die Bemäntelung der eigentlichen Botschaft durch einen mehr oder weniger fadenscheinigen Nachrichtenwert ganz verzichtet und unverhüllt der Ausstieg aus dem Atomausstieg gefordert: "Natürlich hat die Atomkraft ihre Tücken, vor allem das Strahlenrisiko und die Abfallentsorgung", wurde großzügigerweise eingeräumt. "Aber dies gilt es, wie bei allen modernen Errungenschaften, gegen die Vorteile abzuwägen."

Weshalb setzt sich ein gut informiertes Blatt an die Spitze der energiepolitischen Gegenreformation?

Das war, wohlgemerkt, schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Und die FAZ hielt sich auch gar nicht lange damit auf, einen mehr oder weniger befristeten Weiterbetrieb der drei letzten deutschen Reaktoren zu fordern, sondern steuerte direkt das eigentliche Ziel an, nämlich eine Neubelebung der Kernenergie in Deutschland. Insofern war diese Kampagne ehrlicher als der aktuell von Politikern der Union und FDP bemühte Vorwand, eine Laufzeitenverlängerung könne wegen der von Putin entfachten Gasversorgungskrise energiepolitisch sinnvoll oder sogar notwendig sein.

Die FAZ ist eigentlich ein gut informiertes und sonst auch die Leserschaft gut informierendes Blatt. Deshalb müsste sie wissen, mit welchen enormen Kosten, Risiken und Langzeitfolgen die Kernenergie verbunden ist. Dafür genügt schon der Blick nach Frankreich, wo ein immer maroder werdender Kraftwerkspark aus den siebziger und achtziger Jahren bis heute durch keinen einzigen funktionierenden Neubau ersetzt werden konnte und soeben im Juni nur knapp die Hälfte der 56 Reaktoren zur Verfügung stand, weil die anderen wegen notwendiger Reparaturen oder Wartungsarbeiten abgeschaltet werden mussten. Die FAZ-Redakteure sind auch keineswegs so tatterig, um sich von bestimmten Wirtschaftskreisen - denen das Blatt tatsächlich in besonderer Weise verbunden ist -, jeden Unsinn soufflieren zu lassen. Es muss deshalb schon triftigere Gründe geben, wenn ein Leitmedium der deutschen Politik sich in derartiger Weise an die Spitze einer energiepolitischen Gegenreformation stellt.

Wasserstoff-Diskussion änderte Einschätzung des künftigen Strombedarfs

Versetzen wir uns deshalb in die Rolle des advocatus diaboli, der gute Gründe sucht und findet, weshalb die FAZ derart in Teufels Küche geriet und das kein Navigationsfehler war, sondern zielführend: Zum Beispiel fällt einem da die Wasserstoff-Diskussion ein, die es schon in den neunziger Jahren gab. Sie wurde damals von der Stromwirtschaft für beendet erklärt, nachdem ein Pilotversuch scheinbar gezeigt hatte, das sich dieser Energieträger nur für Nischen-Anwendungen eignet (981124). So richtig in Fahrt kam das Thema erst, als die Gasfernleitungsbetreiber im Januar 2020 ihre "Vision für eine erste deutschlandweite Wasserstoffinfrastruktur" in Form einer Netzkarte vorstellten, die grüne Leitungen mit einer Gesamtlänge von etwa 5.900 km enthielt (200106). Das war erkennbar ein frommer Betrug, weil es soviel mit Grünstrom erzeugten Wasserstoff vorerst gar nicht geben kann. Faktisch würden diese Leitungen deshalb mit konventionell aus Erdgas erzeugtem Wasserstoff gefüllt. Der russische Energieminister Sorokin war auch sofort bereit, fünf bis sieben Prozent der Ostsee-Pipeline von Erdgas auf Wasserstoff umzustellen, und bei Uniper hielt man sogar eine 80-prozentige Umrüstung der neuen Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 auf Wasserstoff für möglich. Das bei der Umwandlung anfallende Methan wäre dann nicht in Deutschland, sondern in Russland in die Atmosphäre geschickt worden, was für den weltweiten Treibhausgaseffekt allerdings keinen Unterschied macht. Und selbstverständlich wäre auch die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen noch größer geworden, was damals freilich noch niemand für problematisch zu halten schien.

Unabhängig von den vorläufig fehlenden Grünstrom-Kapazitäten eröffnete diese Diskussion die nicht ganz neue, bisher aber völlig vernachlässigte Perspektive, sämtliche fossilen Energieträger durch Wasserstoff ersetzen zu können, der idealerweise per Elektrolyse mit Grünstrom und damit klimaunschädlich gewonnen wird. Theoretisch könnte so der ganze deutsche Bedarf an Primärenergie gedeckt und die seit mehr als hundert Jahren bestehende Importabhängigkeit bei Energie beendet werden, die schon vor dem ersten Weltkrieg mit dem Öl begann, ab den sechziger Jahren zunehmend auch Erdgas betraf und schließlich sogar die Steinkohle umfasste, weil die Ruhrkohle inzwischen viermal so teuer wie Importkohle war (930715).

Eine weitgehende Deckung des gesamten Energiebedarfs mit Strom wird nur Kernkraftwerken zugetraut

In der Praxis würde eine derartige Substituierung fossiler Energieträger indessen auf eine neue Importabhängigkeit von Wasserstoff hinauslaufen. Schon bisher ist es in Deutschland nicht gelungen und wurde zunehmend schwieriger, die regenerative Stromerzeugung so auszubauen, dass sie den bislang üblichen Gesamtstromverbrauch von etwa 600 Terawattstunden jährlich voll hätte abdecken können (siehe Hintergrund, November 2019). Das lag zwar an einer Politik, mit der die Erneuerbaren eher ausgebremst als gefördert wurden, und wäre technisch durchaus zu realisieren. Der ungleich größere Energiebedarf im Gebäude- und Verkehrssektor sowie in anderen Bereichen, der bisher durch fossile Energieträger gedeckt wird, lässt sich aber nicht so einfach mit Strom aus inländischen Wind- und Solaranlagen substituieren. Man wäre deshalb auf Wasserstoff-Importe aus Ländern angewiesen, wo es genügend ungenutzte Flächen für die dafür erforderlichen Windkraft- und Solaranlagen gibt.

Ergo – so dürften es die intelligenteren Kernkraft-Fans sehen – muss man halt hierzulande wieder auf die ebenfalls CO2-freie Kernenergie zurückgreifen, trotz aller Risiken und höheren Kosten. Denn zweifellos beansprucht ein Atomkraftwerk weniger Fläche als Wind- oder Solarparks, welche dieselben Strommengen erzeugen. Zudem ist bei ihm die Netzeinspeisung nicht vom Wetter oder der Tageszeit abhängig, während sie bei Wind- und Solarkraftwerken schwankt und die Nennleistung nur im Idealfall erreicht wird. Insofern ist schon etwas dran an dem bereits zitierten FAZit: "In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie und es passiert nichts Schlimmes."

Soweit der Versuch einer Annäherung an die kurzschlüssigen Überlegungen von mehr und weniger klugen Köpfen, die dabei alles mögliche ausblenden, von den unterschätzten radioaktiven Risiken und Kosten bis zur Importabhängigkeit beim Uran, das beispielsweise Frankreich bis heute aus dem russischen Machtbereich bezieht. Es ginge kein Traum in Erfüllung, sondern wäre der blanke Horror, wenn in Deutschland tatsächlich so viele Kernkraftwerke errichtet würden, dass damit die gesamte fossile Primärenergie oder auch nur die Hälfte substituiert werden kann. Es würde aber zu weit führen, dieses Thema zu vertiefen. Kehren wir stattdessen zurück zum aktuellen Thema Laufzeitenverlängerung und der Forderung, die Abschalttermine zumindest für die drei letzten Reaktoren aufzuheben.

Die Streichung sämtlicher Abschalttermine wäre von Anfang an sinnvoll gewesen...

Tatsächlich wäre es sinnvoll gewesen, von vornherein auf sämtliche Abschalttermine für die noch verbliebenen neun Reaktoren zu verzichten, die Union und FDP im Jahr 2011 dem Atomgesetz hinzugefügt haben, als sie nach der Katastrophe von Fukushima die soeben beschlossenen Laufzeitenverlängerungen für alle 17 deutschen Kernkraftwerke zurücknahmen und die alte Ausstiegsregelung wieder herstellten. Diese Abschalttermine waren nämlich schon immer populistischer Unsinn, weil sie die Abarbeitung der im Jahre 2000 mit den KKW-Betreibern vereinbarten und dann gesetzlich fixierten Reststrommengen nicht etwa beschleunigten, sondern nur behinderten und verzögerten. Dasselbe galt für die sofortige Stilllegung der acht älteren Reaktoren, die von der schwarz-gelben Koalition ebenfalls beschlossen wurde. Dieser doppelte Unsinn ließ sich nur damit erklären, dass die schwarz-gelbe Koalition keinesfalls den Eindruck entstehen lassen wollte, als ob sie reumütig zur alten Ausstiegsregelung zurückkehre. Deshalb setzte sich die Kanzlerin Angela Merkel sozusagen eine grüne Jakobinermütze auf und tat so, als ob sie nun noch weit radikaler als Grüne und SPD die Kernkraftwerke aufs Schafott schicken wolle (siehe Hintergrund, März 2021). Dieser Trick gelang ihr auch, und selbst nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2016 (161201) verteidigten SPD und Grüne im Schulterschluss mit Union und FDP diese Schlusstermine, als ob sonst der Atomausstieg gefährdet wäre oder gar hinfällig würde.

...weil dann das letzte Kernkraftwerk schon längst vom Netz gegangen wäre

Das Gegenteil traf zu: Hätte man die Abschalttermine beseitigt, nachdem das Bundesverfassungsgericht ihre Unverträglichkeit mit der vorrangigen Reststrommengenregelung beanstandete und bis zum 30. Juni 2018 eine verfassungsrechtlich einwandfreie Lösung verlangte, wäre das letzte deutsche Kernkraftwerk schon vor Jahren stillgelegt worden. Das traute sich aber keine der Bundestagsparteien, weil "Abschalttermine" für naive Ohren einfach zu gut klang. Vermutlich haben die meisten Politiker selber nicht kapiert, dass damit in Wirklichkeit die Laufzeiten der Reaktoren verlängert wurden. Und wer ausnahmsweise den notwendigen Durchblick hatte, traute den Wählern die erforderlichen gedanklichen Zwischenschritte nicht zu, die zum Verständnis erforderlich waren. Vor allem die Union, die inzwischen mit der SPD regierte, hatte verständlicherweise kein Interesse an der dafür notwendigen Aufklärung.

Stattdessen verfiel die schwarz-rote Koalition auf die Idee, den vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Konflikt dadurch zu lösen, dass den KKW-Betreibern eine pauschale Milliarden-Entschädigung für jene Reststrommengen zugestanden wurde, die sie bis zum letzten Abschalttermin am 31. Dezember 2022 voraussichtlich nicht abarbeiten können würden (Hintergrund, Mai 2018). Allerdings war dieses Gesetz dann überaus schlampig abgefasst und erfüllte nicht einmal notwendige formale Voraussetzungen, weshalb es vom Bundesverfassungsgericht komplett für ungültig erklärt wurde (201101). Der Bundestag musste aus diesem Grund die Abfindung von 2,43 Milliarden Euro für Vattenfall, RWE, E.ON und EnBW im Juni 2021 erneut beschließen, damit der öffentlich-rechtliche Vertrag mit den KKW-Betreibern zustande kommen konnte (210601 und Hintergrund, November 2020).

KKW-Betreiber wissen, dass neue Reaktoren ohne Staatshilfe völlig unrentabel sind

Diese schöne Abfindung wollen die bisherigen deutschen KKW-Betreiber natürlich behalten. Das war einer der Gründe, weshalb sie der Propaganda der neuen Atomstrom-Lobby zunächst durchweg ablehnend gegenüberstanden und von einer Verlängerung der Laufzeiten nichts wissen wollten. Geradezu barsch fertigte der Chef der E.ON-Kernkrafttochter Preussenelektra, Guido Knott, diesbezügliche Anfragen von Medien ab. Und auch RWE-Chef Markus Krebber versicherte: "Wir stehen dafür nicht zur Verfügung."

Außerdem wissen die alten KKW-Betreiber, dass neue Kernkraftwerke absolut unrentabel sind, sofern Erzeugung und damit verbundene Entsorgungskosten nicht hochgradig staatlich subventioniert werden. Das gälte auch für eine Laufzeitenverlängerung, die unverhältnismäßig viel Aufwand und Kosten verursachen, aber so gut wie nichts zur Lösung der aktuellen Probleme beitragen würde. Kernkraftwerke sind nun mal typische Grundlastkraftwerke, die rund um die Uhr mit möglichst kontinuierlicher Leistung betrieben werden müssen. Sie taugen deshalb nicht als Ersatz für Gaskraftwerke, deren Domäne die Spitzen- und Mittellast ist. Das schaffen Steinkohlekraftwerke viel besser. Und von denen gibt es genug, weil viele trotz des beschlossenen Kohleausstiegs aus netztechnischen Gründen als "systemrelevant" gelten und deshalb als Reserve weiterhin vorgehalten werden müssen. Und auch bei einem Mangel an Grundlaststrom wäre es einfacher, eines der in "Sicherheitsbereitschaft" befindlichen Braunkohlekraftwerke zu reaktivieren. Am sinnvollsten ist aber allemal ein zügiger Ausbau der regenerativen Stromerzeugung – idealerweise in Verbindung mit Speichertechniken für deren fluktuierenden Anteil –, um auf den nunmehr notwendig gewordenen Rückgriff auf Kohlekraftwerke (220602) möglichst schnell wieder verzichten zu können.

Söder will alle drei Reaktoren vor dem Abschalten bewahren

Heute klingt es zumindest bei E.ON etwas anders. Man applaudiert zwar noch nicht der Forderung nach einer Laufzeitenverlängerung, widerspricht ihr aber auch nicht. Das hat offenbar damit zu tun, dass E.ON den Reaktor Isar 2 in Bayern betreibt, der zu den drei letzten Stilllegungskandidaten gehört, die am Ende dieses Jahres planmäßig vom Netz gehen. Vor allem hat es damit zu tun, dass der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder sein Herz für diesen Reaktor entdeckt hat und ihn unbedingt vor dem Abschalten bewahren möchte. Und nicht nur diesen: Um eine Stromlücke zu verhindern, sei es notwendig, alle deutschen Kernkraftwerke über das Jahr 2022 hinaus laufen zu lassen, erklärte Markus Söder am 22. Juni in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. "Wir haben einen Gasnotstand für den Winter und wir bekommen noch eine Riesen-Stromlücke dazu, wenn wir die Kernenergie abschalten", behauptete der CSU-Chef. "Es ist meiner Meinung nach völlig unverantwortlich, die Kernenergie auslaufen zu lassen und damit die Probleme noch massiv zu potenzieren. Wer das tut handelt leider unverantwortlich."

Unverantwortlich ist aber nur die Demagogie, die Söder hier wieder mal betreibt. Von der Kernenergie und ihren Problemen hat er offenbar wenig Ahnung, wie sein Herumeiern auf Nachfragen des Interviewers zeigte. Zum Beispiel wollte er partout nicht auf die Frage antworten, welcher wichtige Gesichtspunkt dem RWE-Chef Markus Krebber entgangen sein könnte, als dieser erklärte: "Für einen sinnvollen verlängerten Betrieb von Kernkraftwerken schätzen auch wir die Hürden als zu hoch ein." Das einzige, was dem wendigen Populisten dazu einfiel, war das Argument, dass Krebber diese Äußerung schon im März gemacht habe. Schließlich blaffte er den Interviewer an: "Ich gebe Ihnen die Antwort, die ich für angemessen halte."

Ukraine-Krieg soll Laufzeitenverlängerung als notwendig erscheinen lassen

Vom "Münchner Merkur" braucht Söder solche kritischen Fragen nicht zu befürchten. Diese Tageszeitung - die nicht etwa der CSU, sondern dem Ippen-Konzern gehört - feuerte seit März ganze Salven zur Unterstützung von Söders neuem energiepolitischen Patentrezept ab. Zum Beispiel berichtete sie, dass sich Söder mit Bundeskanzler Scholz angelegt habe und es als "fachlichen Blödsinn" bezeichne, wenn dieser in einem Interview mit demselben Blatt die Zeit für die Beschaffung neuer Brennelemente mit zwölf bis achtzehn Monaten veranschlagt habe. Oder sie berichtete über ein vom bayerischen Umweltministerium bestelltes Gutachten des TÜV Süd, mit dem bescheinigt werde, dass die Kernkraftwerke auch ohne neue Brennelemente noch einige Monate weiterlaufen könnten. Oder sie berichtete einfach darüber, dass sich dieser oder jener Politiker für oder gegen die Laufzeitenverlängerung ausgesprochen habe. Letztlich ging es nur darum, das Thema am Köcheln zu halten.

Besonders begeistert zeigte sich das Münchener Blatt von einem Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz, den der Verein "Kerntechnik Deutschland" am 23. März veröffentlichte. Darin wurde der russische Überfall auf die Ukraine zum Anlass genommen, um Scholz zur Verlängerung der Laufzeiten für die deutschen Kernkraftwerke aufzufordern. Der Ukraine-Krieg könne im kommenden Winter zu Lücken bei der Stromversorgung führen. Deshalb müssten alle verfügbaren Energiequellen genutzt werden. Vor allem die Kernkraftwerke könnten problemlos bis ins kommende Frühjahr betrieben werden oder auch noch über weitere Jahre, sofern sie mit neuen Brennelementen versorgt würden. Diese Maßnahme könne sofort beschlossen und kurzfristig umgesetzt werden – "anders als beispielsweise die derzeit angedachten neuen Flüssiggasterminals oder auch Zubauten an erneuerbaren Energien mit dem damit verbundenen Netzausbau". Außerdem sei der Prüfvermerk, mit dem die beiden Bundesministerien kurz zuvor eine Laufzeiten-Verlängerung abgelehnt hatten, "vielfach fachlich nichtzutreffend" und werde "vor allem der derzeit kritischen Lage nicht gerecht".

"Ohne Kernkraft kann sich Deutschland nicht aus Putins Schwitzkasten befreien"

Ein ähnliches Papier verbreitete der Verein, auf den sich auch die FAZ gern beruft, schon Anfang März. Der Chefredakteur des CSU-nahen Blatts schwadronierte daraufhin: "Ohne längere Nutzung der Brückentechnologie Kernkraft kann sich Deutschland nicht aus Putins Schwitzkasten befreien. Einer der liebsten Glaubenssätze der mit dem Krieg und den explodierenden Energiepreisen in die Defensive geratenen Anti-Atom-Bewegung lautete zuletzt, die Kraftwerksbetreiber seien zum Weiterbetrieb der letzten noch laufenden Meiler über 2022 hinaus gar nicht bereit und/oder in der Lage. Mit diesem Märchen hat der Verband Kerntechnik nun aufgeräumt. Man stehe parat, einen 'wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit Deutschlands zu leisten', hieß es am Wochenende. Der Wind hat sich gedreht. Das untrüglichste Zeichen dafür ist, dass ausgerechnet der einst feurigste Atomaussteiger Markus Söder plötzlich wieder an der Spitze der 'Atomkraft – ja bitte'-Bewegung marschiert."

Der Verein "Kerntechnik Deutschland" ist eher eine Propagandaorganisation als ein Kompetenzzentrum

Mit der feurigen Begeisterung Söders für den Atomausstieg verhielt es sich natürlich ein bißchen anders, als diese Scheinkritik suggeriert: Es war einfach so, dass sich der Opportunist vor einem Jahrzehnt der Parteilinie der Union angepasst und dies damit erklärt hat, dass "Fukushima alles ändert". Aber nun änderte der Ukraine-Krieg wieder alles, und Söder erkannte die Chance, bei anderen tatsächlich ein solches Erweckungserlebnis herbeizuführen, wie es ihm sein Hofschreiber augenzwinkernd unterstellt. Für die notwendige Höllenangst sorgt der Ukraine-Krieg, und die frohe Botschaft der Erlösung liefert ihm der Verein Kerntechnik Deutschland.

Dieser Verein, der sich vornehm als "Kompetenzzentrum für den öffentlichen und regulatorischen Dialog im Bereich der Kerntechnik" bezeichnet, ist eher eine Propagandaorganisation. Er ist sogar der direkte Nachfolger des "Deutschen Atomforums", das früher für die deutschen Atomkonzerne die Segnungen der Kernkraft pries. Spätestens nach Fukushima führte dieser Verein nur noch ein Schattendasein. Zu seinem heutigen Namen kam er, als er 2019 mit dem Wirtschaftsverband Kernbrennstoff-Kreislauf und Kerntechnik fusionierte. Aus der früheren Zeit gehört noch der ehemalige Atomforum-Präsident Ralf Güldner als einer von zwei stellvertretenden Vorsitzenden dem Vorstand an. Güldner sitzt im im Aufsichtsrat der E.ON-Kernkrafttochter Preussenelektra, die den Verein auch als Mitglied unterstützt (ab einem Beitrag von 50.000 Euro gibt es dreifaches Stimmrecht). Als weitere Mitglieder aus der alten Garde der deutschen Nuklearwirtschaft nennt das vom Bundestag geführte Lobby-Register die Vattenfall GmbH und die Siemens AG.

An der Spitze des Vereins stehen Vertreter von Rosatom und Framatome

Im übrigen ist der Verein aber keineswegs so kerndeutsch, wie sein Name suggeriert. Zum Beispiel ist der stellvertretende Vorsitzende Carsten Haferkamp als Geschäftsführer der deutschen EDF-Tochter Framatome sicher nicht deutschen Interessen verpflichtet, sondern denen des französischen KKW-Betreibers. An der Spitze des Vereins steht sogar ein Mann, der von seinem Arbeitgeber sofort gefeuert würde, wenn er tatsächlich versuchen sollte, Deutschland "aus Putins Schwitzkasten zu befreien". Der Vorsitzende Thomas Seipolt ist nämlich Chef der Nukem Technologies in Alzenau. Und diese gehört schon seit 2009 dem staatlichen russischen Atomkonzern Rosatom, der neben Kernkraftwerken auch die Atombomben baut, mit deren Einsatz Putin drohte, falls ihn jemand an der Zerstörung und Unterwerfung der Ukraine hindern sollte.

Übrigens haben Framatome und Rosatom erst vor einem halben Jahr ein Kooperationsabkommen geschlossen und sind bis heute – ungeachtet des russischen Überfalls auf die Ukraine – geschäftlich stark miteinander verbandelt (siehe Hintergrund, April 2022). Laut Framatome handelte es sich um eine "neue strategische Vereinbarung über eine langfristige Zusammenarbeit". Vermutlich ist darin keine Geheimklausel enthalten, wonach sich beide auch um die Neubelebung der Kernenergie in Deutschland bemühen wollen. Ein natürliches Interesse, auf dem deutschen Markt mit Uranlieferungen, Brennelementen oder dem Bau von kompletten Kernkraftwerken ins Geschäft zu kommen, gab und gibt es aber auf beiden Seiten schon.

 

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