Oktober 2021

211006

ENERGIE-CHRONIK


Kernenergie-Fans wittern Morgenluft

Während die noch aktiven KKW-Betreiber beteuern, keinesfalls an den beiden Abschaltterminen für die sechs letzten Reaktoren rütteln zu wollen (siehe Hintergrund, August 2021), mehren sich propagandistische Vorstöße für eine Verlängerung der Laufzeiten dieser Kernkraftwerke und für eine Neubelebung der Kernenergie insgesamt. Die Motivation ist dabei unterschiedlich. Zum Teil handelt es sich um rein ideologisch fixierte Kernenergie-Fans, zum anderen aber auch um Vertreter der Chemiewirtschaft und anderer industrieller Kreise, die einer hauptsächlich auf erneuerbaren Quellen basierenden Stromversorgung noch immer mißtrauen. Außerdem sehen Gegner von Windkraftanlagen im Weiterbetrieb und Neubau von Kernkraftwerken ein probates Mittel, um eine weitere "Verspargelung" der Landschaft zu verhindern. Rückenwind verspüren dabei alle durch den neuen politischen Stellenwert des Klimaschutzes sowie die Forderung Frankreichs und anderer Staaten, die Kernenergie in die geplante EU-Taxonomie der klima- und umweltfreundlichen Investments aufzunehmen (211007). Zusätzlich wird auch gern darauf verwiesen, dass eine völlig neue Generation von kleineren Kernkraftwerken in Vorbereitung sei, die das radioaktive Risiko minimiere (211008).

FAZ propagiert den Ausstieg aus dem Atomausstieg

Sogar die als seriös geltende "Frankfurter Allgemeine" veröffentlichte am 21. Oktober auf ihrer ersten Seite einen Leitartikel unter der Überschrift "Die Atom-Diskussion wagen!", der den Ausstieg aus dem Atomausstieg forderte. "Natürlich hat die Atomkraft ihre Tücken, vor allem das Strahlenrisiko und die Abfallentsorgung", wurde großzügigerweise eingeräumt. "Aber dies gilt es, wie bei allen modernen Errungenschaften, gegen die Vorteile abzuwägen." Verfasser war der Berliner Korrespondent des Blattes, Christian Geinitz, der auch sonst gern Vorstöße in dieser Richtung kolportiert: So berichtete er am 7. Oktober über eine "Analyse", mit der ein obskurer "Aktionskreis Energie und Umweltschutz" die FDP-Spitze aufforderte, die Laufzeiten-Verlängerung in die Koalitionsverhandlungen einzubringen.

FDP-Zirkel firmiert als "Aktionskreis Energie und Umweltschutz"

Dieser "Aktionskreis Energie und Umweltschutz" – abgekürzt Aken – darf nicht mit dem ähnlich lautenden "Aktionskreis Energie" verwechselt werden, der sich in Berlin seit 2007 als gemeinnütziger Verein der Förderung des Klima- und Umweltschutzes widmet. Auf seiner Internetseite bezeichnet er sich als "gemischte Gruppe von liberal und tolerant denkenden Personen", was zunächst wie die Selbstbeschreibung eines Swinger-Klubs anmutet. Es handelt sich aber um ein "heterogenes Team aus kompetenten und berufserfahrenen Unternehmern, Akademikern und Facharbeitern", die sich "große Sorgen um die Zukunft unseres Landes in Folge der Umsetzung der Energiewende" machen. Wieviele Mitglieder dieses Team umfasst, wird nicht verraten. Auch der politische Hintergrund der selbsternannten Umweltschützer wird weder auf ihrer Internetseite noch im Artikel der FAZ deutlich. Immerhin sind aber sechs "Initiatoren" namentlich genannt. An erster Stelle ist das der Vorsitzende der FDP-Kreistagsfraktion Alzey/Worms, Heribert Erbes. Auch die fünf anderen gehören offenbar der FDP an oder sind deren Umfeld zuzurechnen.

Ein dubioses Papier wird zum Störfaktor bei den Koalitionsverhandlungen hochgeschrieben

Die erwähnte "Analyse" ist ein dürftiges zweiseitiges Papier, das sich auf eine angebliche Umfrage unter "Vorständen und Führungskräften führender Unternehmen der Kerntechnik und der Betreiber von Kernkraftwerken" stützt. Es war nach Erscheinen des FAZ-Artikels auf der "Aken"-Internetseite nicht zu finden, tauchte aber später, datiert auf den 6. Oktober, unter "Downloads" auf. Namen oder Zahlen werden nicht genannt, da alle Gespräche "unter der Bedingung von Anonymität" stattgefunden hätten. Diese ominöse Umfrage habe ergeben, dass eine Laufzeitenverlängerung – man höre und staune – technisch möglich sei. Ein paar kleinere Probleme müssten aber schon gelöst werden. Zum Beispiel müsse das Bundeswirtschaftsministerium "schnellstens auf dem Verwaltungsweg ein Rückbauverbot veranlassen". Außerdem müsse der Bundestag "eine Garantie über 15, besser 20 Jahre für den Bestand der Genehmigungsanforderungen" beschließen. Laut FAZ haben die Verfasser dieses Ergebnis ihrer tiefschürfenden "Erhebungen" der FDP-Spitze übermittelt, damit sie es in die Koalitionsverhandlungen über die künftige Bundesregierung einbringt. Das klingt angesichts der mühsam überbrückten Konflikte bei den bisherigen Gesprächen zwischen SPD, Grünen und FDP eigentlich wie ein schlechter Witz. Außerdem dürfte die FDP-Spitze die Vorlage eines derartigen Papiers nicht einmal dann für opportun halten, wenn sie es auf den sofortigen Abbruch der Verhandlungen abgesehen hätte. Der Verfasser des Artikels vermerkte indessen ganz ernsthaft: "Dem Vernehmen nach haben die Liberalen das Papier aber bisher nicht in die Gespräche eingebracht." So gelangte diese "Analyse" nur bei der FDP in den Papierkorb, aber nicht bei der FAZ.

Der einstige BASF-Chef Hambrecht darf erneut für Laufzeiten-Verlängerung trommeln

Unter der Überschrift "Zweifel am Atomausstieg wachsen" folgte am 19. Oktober ein weiterer vierspaltiger Geinitz-Artikel, in dem der ehemalige BASF-Chef Jürgen Hambrecht dem FAZ-Korrespondenten seine Unzufriedenheit mit dem Atomausstieg anvertraute und es für ratsam hielt, "über die möglichen Vorteile der Kernenergie noch einmal neu nachzudenken". Der Nachrichtenwert war hier noch dürftiger, denn von Hambrecht war nun wirklich nichts anderes zu erwarten: Schon vor elf Jahren trommelte der heutige Pensionär für die Laufzeiten-Verlängerungen, die Union und FDP dann tatsächlich beschlossen, aber nach der Katastrophe von Fukushima schleunigst wieder rückgängig machten. Hambrecht ist übrigens 2015 der FDP beigetreten.

"In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie und es passiert nichts Schlimmes"

Bei diesen FAZ-Artikeln handelte es sich nicht um Alleingänge eines einzelnen Kernenergie-Fans. So gelangte der FAZ-Korrespondent Reinhard Bingener schon in der "FAZ am Sonntag" vom 14. März zu der umwerfenden Erkenntnis: "Die Nutzung der Kernkraft lässt sich mit einer Wette vergleichen, die man fast immer gewinnt: In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie und es passiert nichts Schlimmes" (siehe Hintergrund, März 2021). Der neoliberale Wirtschaftsredakteur Gerald Braunberger, der inzwischen zu einem der vier FAZ-Herausgeber aufgerückt ist, hofierte am 18. August den Evonik-Chef und Chemieverbandspräsidenten Christian Kullmann als Stichwortgeber eines ganzseitigen Interviews, in dem sich Kullmann ebenfalls für eine Neubelebung der Kernenergie aussprach, weil Wind- und Solarenergie keine sichere Stromversorgung ermöglichen könnten (siehe Hintergrund, August 2021).

Zwei Anti-Windkraft-Initiativen fordern Aufhebung der Schlusstermine

Größere Verbreitung in den Medien erlangte ein Papier, das die Anti-Windkraft-Initiativen "Vernunftkraft" und "EnergieVernunft" am 19. Oktober in Berlin präsentierten und in dem sie ein "Kernkraftwerk-Moratorium" fordern. Eine entsprechende dpa-Meldung wurde unter anderen vom "Handelsblatt" veröffentlicht. Das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" des Madsack-Konzerns verbreitete dazu ebenfalls eine Meldung. Diesen Berichten zufolge – auf den Internetseiten der beiden Initiativen war das Papier bisher nicht zu finden – verlangen die Windkraftgegner die Aufhebung der Schlusstermine im Atomgesetz. Die endgültige Abschaltung der sechs noch verbliebenen Reaktoren dürfe erst dann erfolgen, wenn die wegfallende Strommenge durch Ersatzneubauten von Erneuerbaren Energien und Gaskraftwerken ersetzt worden sei. Von der Ablehnung der Windkraft scheint in dem Papier jedoch keine Rede zu sein. Stattdessen heißt es: "Die aktuelle Entwicklung der Gas- und Strompreise ist besorgniserregend und ein Alarmsignal." Der frühere Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt (120207) wird mit den Worten zitiert: "Explodierende Energiepreise und Versorgungsengpässe sind vor allem ein Zeichen des Mangels und vor diesem Hintergrund ist die Stilllegung der letzten sechs Kernkraftwerke in den nächsten 14 Monaten unverantwortlich."

Die Forderung der beiden Anti-Windkraft-Initiativen, einfach die Schlusstermine der noch laufenden Reaktoren bis auf weiteres zu suspendieren, zeugt von der verbreiteten Unkenntnis der Problematik: Mit der Beseitigung dieser eher propagandistischen Zutaten im Atomgesetz wäre es nämlich nicht getan. Zusätzlich müsste schnell noch die ganze Reststrommengen-Regelung abgeschafft werden, die laut Bundesverfassungsgericht den höheren Stellenwert hat und automatisch für ein baldiges Ende der Reaktoren sorgen würde. Aber wie das alles miteinander zusammenhängt, scheint sich selbst nach zwanzig Jahren noch nicht überall herumgesprochen zu haben.

"Offiziell würde kein Manager eine Laufzeitverlängerung fordern – doch intern ist die Meinungslage anders"

Auch das konservative Magazin "Cicero" (9.10.) brach wieder mal eine Lanze für die Kernenergie, wobei es den bereits erwähnten Zwergenaufstand eines einflußlosen FDP-Zirkels als Beginn eines parteiübergreifenden Abbröckelns des Widerstands gegen Atomkraftwerke deutete: "Vor den Koalitionsverhandlungen kursiert in der FDP ein Papier, das den Weg zur Erhaltung der deutschen Kernkraftwerke skizziert. Und auch bei den Grünen gibt es nachdenkliche Stimmen. Findet die Ökopartei den Mut, sich einzugestehen, dass ihr Anti-Atom-Kurs ein klimaschädlicher Irrweg ist?" Sodann verwies der Verfasser auf einen "bemerkenswerten Aufsatz", den zwei E.ON-Ingenieure in der Zeitschrift "atw" veröffentlichten, die früher "atomwirtschaft" hieß und den Atomausstieg als englischsprachige Publikation für die weltweite KKW-Gemeinde überlebt hat. In diesem elfseitigen Artikel hätten die beiden schon im März vor drohenden Engpässen und wachsender Instabilität der Stromversorgung in Deutschland gewarnt, falls auch noch die letzten Kernkraftwerke stillgelegt werden. Seine messerscharfe Schlußfolgerung: "Die deutschen Energiekonzerne haben sich mit dem Atomausstieg zwar längst arrangiert. Offiziell würde keiner ihrer Manager eine Laufzeitverlängerung der sechs verbliebenen Kernkraftwerke fordern. Dafür sei es jetzt ohnehin zu spät, heißt es. Doch intern ist die Meinungslage anders. Mit dem Fachartikel der beiden Ingenieure der E.on-Tochter Preussenelektra ist dies erstmals nach außen gedrungen."

Weder die KKW-Betreiber noch die Politiker haben ein Interesse, an der jetzigen Regelung etwas zu ändern

An dieser Behauptung ist sicher etwas dran. Es kann durchaus sein, dass sogar dem Preussenelektra-Chef Guido Knott innerlich das Herz geblutet hat, als er auf Nachfrage von Medien jeden Gedanken an eine Laufzeitverlängerung entschieden zurückweisen musste. Andererseits sind geschäftliche Überlegungen absolut vorrangig und die 2,43 Milliarden Euro fest eingetütet, die den KKW-Betreibern unnötigerweise aus Steuergeldern gezahlt werden (210301). Die Bundestagsparteien würden sich erst recht selber in den Hintern treten, wenn sie nun plötzlich für die sechs letzten Kernkraftwerke doch noch die Schlusstermine beseitigen wollten, an denen sie jahrelang verbissen festhielten, obwohl dadurch der Ausstieg aus der Kernenergie nur verlangsamt und verteuert wurde (siehe Hintergrund, März 2021).

 

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