März 2022

220312

ENERGIE-CHRONIK


Längere Laufzeiten für KKW sind auch jetzt nicht sinnvoll

Eine Verlängerung der Laufzeiten für die Reaktoren Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2, die zum Ende dieses Jahres stillgelegt werden, wäre kein sinnvoller Beitrag zur Lösung der Energieprobleme, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine entstanden sind. Noch mehr gilt dies für eine Wiederinbetriebnahme der im Dezember stillgelegten Reaktoren Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C. Zu diesem Befund gelangt ein "Prüfvermerk zur Debatte um die Laufzeiten von Atomkraftwerken", den am 8. März die beiden Bundesministerien für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) gemeinsam vorlegten (siehe PDF).

Beitrag zur Versorgungssicherheit wäre nicht relevant - Anfertigung neuer Brennelemente würde mehr als ein Jahr dauern

Der Prüfbericht verweist darauf, dass der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke sowieso keinen relevanten Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten würde, weil die hohe Abhängigkeit von Gas aus Russland vor allem im Bereich der Wärmeerzeugung und der Industrie besteht. In diesem Sektor würden die drei noch am Netz befindlichen Reaktoren keine Rolle spielen, weil sie nur etwa fünf Prozent der Stromerzeugung decken und dann vor allem Strom aus Kohlekraftwerken ersetzen würden, anstatt zur Erhöhung der Unabhängigkeit von russischen Gasimporten beizutragen. Außerdem seien die verfügbaren Brennelemente zum Ende des Jahres fast abgebrannt. Die Produktion von neuen Brennelementen dauere mindestens 12 bis 15 Monate. Selbst bei sofortiger Bestellung und beschleunigter Abwicklung wäre deshalb mit einer Nutzung nicht vor Sommer/Herbst 2023 zu rechnen.

Zehnjährige Sicherheitsüberprüfung wäre eigentlich schon 2019 fällig gewesen

Ferner wären umfangreiche Berechnungen, Begutachtungen und behördliche Zustimmungen notwendig, um die Sicherheit aller Betriebsparameter des Kerns zu ermitteln und nachzuweisen. Die drei Reaktoren seien zwar sicherheitstechnisch grundsätzlich auf einem hohen Niveau. Mit Blick auf ihre Stilllegung zum Jahresende 2022 seien sie aber ausnahmsweise von der sonst obligatorischen Sicherheitsüberprüfung befreit worden, die nach zehn Jahren schon 2019 fällig gewesen wäre. Eine neue wäre deshalb zwingend geboten. Ein Weiterbetrieb wäre nur möglich, wenn eine gesetzliche Neuregelung die Sicherheitsprüfung in Umfang und Prüftiefe deutlich reduzieren oder auf weitreichende Nachrüstungsmaßnahmen verzichten würde, die im Zuge der Sicherheitsüberprüfung oder aufgrund des neuesten Standes von Wissenschaft und Technik erforderlich sind. Für die Ende 2021 bereits abgeschalteten Anlagen sei alles noch schwieriger, weil ihre Berechtigung zum Leistungsbetrieb bereits erloschen ist. Die Aufhebung dieses Erlöschens erfordere eine gesetzliche Neuregelung, wobei der Aufwand für die notwendigen Verfahrensschritte einschließlich Öffentlichkeitsbeteiligung und Umweltverträglichkeitsprüfung dem einer Neugenehmigung entspreche.

Kernenergie-Fans nutzen den Krieg in der Ukraine als neuen Rückenwind

Die beiden Ministerien hatten die Untersuchung in Auftrag gegeben, weil der russische Überfall auf die Ukraine das Thema Atomkraftwerke gleich doppelt ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückte: Zum einen drohte und droht noch immer die Gefahr, dass durch versehentlichen oder gar absichtlichen Beschuss der 15 Reaktoren in der Ukraine eine Katastrophe mit grenzüberschreitender radioaktiver Verseuchung wie 1986 in Tschernobyl ausgelöst wird (220306). Zum anderen verspürten in Deutschland jene unentwegten Kernenergie-Fans wieder Auftrieb, die schon seit vorigem Jahr eine Verlängerung oder sogar Neubelebung der Kernenergie in Deutschland verlangt hatten (211006). Nun kam als Begründung hinzu, dass sich auf diese Weise ein wesentlicher Beitrag zur Lösung der Probleme leisten lasse, die sich aus der notwendig gewordenen Minimierung der Gas- und Ölimporte aus Russland ergeben.

Belgische Regierung beschloss Laufzeiten-Verlängerung für Doel 4 und Tihange 3

Zusätzlicher Rückenwind kam dabei aus Belgien, wo am 18. März die aus sieben Parteien bestehende Regierung aus Gründen des Koalitionsfriedens beschloss, die Laufzeiten der beiden letzten Reaktoren Doel 4 und Tihange 3 um zehn Jahre zu verlängern. Die ursprünglich für 2025 geplante Stillegung der beiden belgischen Reaktoren hatte schon vor dem Ukraine-Krieg auf der Kippe gestanden, obwohl sich ausgerechnet der KKW-Betreiber Engie gegen eine Laufzeitenverlängerung wandte (211205). Engie wird seine Zustimmung nun wohl von langfristigen Garantien für eine profitable Ausgestaltung des Weiterbetriebs abhängig machen.

FAZ macht den Resonanzboden für das ehemalige "Deutsche Atomforum"

Vor allem die "Frankfurter Allgemeine", die schon im Sommer vorigen Jahres eine Kampagne zur Verlängerung der KKW-Laufzeiten begann (siehe 211006 und Hintergrund, August 2021), machte erneut den Resonanzboden für derartige Forderungen, die letztendlich auf eine Neubelebung der Kernenergie in Deutschland hinauslaufen würden. Dazu wandte sich ihr Redakteur Christian Geinitz vertrauensvoll an den Verein "Kerntechnik Deutschland" als Sachverständigen. Dieser Verein hieß früher "Deutsches Atomforum" und war die Propagandazentrale der einst sehr mächtigen deutschen Atomwirtschaft. Nach Auskunft des neu eingeführten Lobbyregisters (220309) handelt es sich beim heutigen Verein "Kerntechnik Deutschland e.V." um einen ziemlich schwachbrüstigen Lobbyverband, der in die Kategorie "1 bis 10 Beschäftigte" fällt und die finanziellen Aufwendungen zur Verfolgung seiner spezifischen Interessen mit "60.001 bis 70.000 Euro" angibt. Als ähnlich gepolte Mitglieder des Vereins nennt das Register die E.ON-Kernkrafttochter PreussenElektra GmbH (150901), die Siemens AG und die Vattenfall GmbH. Vorsitzender des Vereins ist Thomas Seipolt von der Nukem Technologies GmbH. Stellvertreter sind der ehemalige Atomforum-Präsident Ralf Güldner (100516) in seiner heutigen Funktion als Aufsichtsrat der PreussenElektra und Carsten Haferkamp als Geschäftsführer der deutschen EDF-Tochter Framatome GmbH (180310). Der Schatzmeister Daniel Oehr ist Chef der GNS Gesellschaft für Nuklear Service GmbH. Laut Satzung können sich die Mitglieder durch Beiträge von mehr als 10-, 25- oder 50-tausend Euro zusätzlich 1, 2 oder 3 Stimmrechte sichern. Obwohl die Geldströme der Industrie für Kernkraft-Propaganda in den vergangenen Jahren eher zu Rinnsalen geschrumpft sind (170804), darf man annehmen, dass die genannten sechs Unternehmen den Höchstbeitrag oder noch mehr zahlen. Schon das ergäbe annähernd das Fünffache der Summe, die der Verband als Lobby-Ausgaben angibt.

Kostenlos und unbezahlbar ist dabei die Lobbyarbeit, die über Medien wie die FAZ in die mehr oder weniger klugen Köpfe einflußreicher Zielgruppen transportiert wird. Am 26. März sah das so aus, dass die FAZ einen ganzseitigen Geinitz-Artikel veröffentlichte, demzufolge die Argumente gegen verlängerte Laufzeiten "vorgeschoben" wirken und "von der Industrie entkräftet" werden. Das Kontrastprogramm dazu bot am selben Tag die "Süddeutsche Zeitung" mit einem halbseitigen Artikel unter der Überschrift "Und nochmal: Nein Danke", der genau den gegenteiligen Standpunkt vertrat.

 

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