| Oktober 2025 | 251004 | ENERGIE-CHRONIK | 
Polen ist nicht bereit, den 46-jährigen Wolodymir Z. an die deutsche Justiz auszuliefern, dem die Bundesanwaltschaft vorwirft, an der Sprengung der beiden Nord-Stream-Pipelines am 26. September 2022 in der Ostsee beteiligt gewesen zu sein. Der Ukrainer sollte deshalb bereits im August 2024 festgenommen und der deutschen Justiz überstellt werden, nachdem die Bundesanwaltschaft den polnischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl übermittelt hatte. Zu dessen Vollstreckung kam es aber nicht, da Z. mit Duldung oder sogar Mithilfe der Behörden das Land in Richtung Ukraine verlassen konnte (240801).
Nach seiner zeitweiligen Flucht war der Gesuchte nach Polen zurückgekehrt, wo er zuvor gewohnt hatte. Am 30. September wurde er dann in dem Ort Pruszkow bei Warschau doch noch von den polnischen Behörden festgenommen. "Der Beschuldigte wird nach einer Überstellung aus Polen dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vorgeführt", hieß es dazu in einer Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft. Die Anhörung zur beantragten Überstellung nach Karlsruhe fand am 17. Oktober vor dem Bezirksgericht in Warschau statt. Dabei behauptete Z., an dem Anschlag auf die Pipelines gar nicht beteiligt gewesen zu sein und sich zum fraglichen Zeitpunkt in der Ukraine aufgehalten zu haben. "Sie sind frei!" erklärte am Ende der Verhandlung der Richter, lehnte die Auslieferung ab und hob die Untersuchungshaft auf.
Es war aber nicht das eher unglaubwürdige Leugnen der Tatbeteiligung, was dem Festgenommenen zur Freilassung verhalf. Laut der polnischen Agentur PAP begründete der zuständige Richter seine Entscheidung damit, dass es keine Rolle spiele, ob die Vorwürfe zutreffen. Vielmehr sei entscheidend, dass die Z. zur Last gelegten Handlungen gar nicht rechtswidrig gewesen seien. Sie seien sogar gerechtfertigt, rational und gerecht gewesen. Angriffe auf die kritische Infrastruktur eines Angreifers durch Streitkräfte und Spezialeinheiten während eines Krieges seien keine Sabotage, sondern Diversionsakte ("aktem dywersji"), die keinesfalls als Straftaten angesehen werden könnten. Die Sprengung der Ostsee-Pipelines sei während eines "blutigen und völkermörderischen Angriffs Russland auf die Ukraine" erfolgt, der schon 2014 mit der russischen Einverleibung der Krim begonnen habe. Deshalb könne allenfalls der ukrainische Staat für eine solche berechtigte Abwehrmaßnahme gegen den russischen Aggressor verantwortlich gemacht werden.
Die polnische Staatsanwaltschaft kündigte sogleich an, die Entscheidung des Gerichts zu akzeptieren. In Polen wurde der Bau der Ostsee-Pipelines schon immer abgelehnt und als Bedrohung empfunden, da er erkennbar dem Zweck diente, die durch die Ukraine und Polen führenden Transit-Gasleitungen zu entwerten und überflüssig zu machen. Ebenso parteiübergreifend wurde die Sprengung von drei der vier Röhren keineswegs mit Empörung, sondern mit Genugtuung aufgenommen. Als sich dann noch herausstellte, dass die Täter höchstwahrscheinlich Ukrainer waren, machte sie das in den Augen der meisten Polen zu Volkshelden. Hinzu kommt ein tiefsitzendes und auf leidvollen historischen Erfahrungen basierendes Mißtrauen gegenüber Russland, das noch größer ist als das ebenfalls in der Historie wurzelnde Ressentiment gegenüber Deutschland, das durch den Bau der Ostsee-Gaspipelines neue Nahrung erhalten hat. Dies muss man alles berücksichtigen, um die Entscheidung des Warschauer Bezirksgerichts zu verstehen, die einer Überprüfung durch den Europäischen Gerichtshof wohl kaum standhalten würde.
Hinzu kommt, dass der liberalkonservative Ministerpräsident Donald Tusk unter starkem Druck der nationalistischen Rechtspartei PiS steht, die wieder an die Schalthebel der politischen Macht gelangen möchte, die sie 2023 verloren hat. So warf der PiS-Politiker Pawel Jablonski bei einer Kundgebung am 11. Oktober dem "Tusk-Staat" vor, den festgenommenen Ukrainer an die Deutschen ausliefern zu wollen. Auf derselben Kundgebung warnte der Oppositonsführer Jaroslaw Kaczynski davor, dass Tusk sogar ein "deutsches Protektorat" in Polen errichten wolle.
Es ist nicht bekannt, ob oder wieweit Tusk mit der nachträglich doch noch erfolgten Festnahme von Wolodymir Z. überhaupt befasst war. Außenpolitisch war sie dem lädierten Ansehen Polens in der EU sicher förderlich. Das Versagen der Behörden vor einem Jahr fügte sich nämlich noch immer in das Bild eines stark beschädigten Rechtsstaats, das den EU-Gerichtshof veranlasst hat, die PiS-Regierung mit einem täglichen Zwangsgeld von einer Million Euro zu belegen (230613).
Innenpolitisch kann Tusk dagegen nur verlieren, wenn es der gegnerischen Propaganda gelingt, ihn als Initiator der Festnahme oder als Unterstützer des deutschen Auslieferungsbegehrens erscheinen zu lassen. Er unterstrich deshalb, dass es nun in den Händen unabhängiger Richter liege, über das weitere Schicksal des Festgenommenen zu entscheiden. Rein persönlich lehne er aber eine Auslieferung an Deutschland ab, versicherte er – was ein nicht ganz so unabhängiger Richter freilich auch als Aufforderung verstehen könnte, im Sinne des Regierungschefs zu entscheiden.
"Es liegt sicherlich nicht im Interesse Polens und im Interesse eines Gefühls von Anstand und Gerechtigkeit, diesen Bürger anzuklagen oder an einen anderen Staat auszuliefern", sagte Tusk am 7. Oktober anläßlich eines Besuchs der litauischen Regierungschefin Inga Ruginiene in Warschau. Und auf der Social-Media-Plattform "X" veröffentlichte er am selben Tag den Spruch: "Das Problem mit Nord Stream 2 ist nicht, dass sie gesprengt wurde. Das Problem ist, dass sie gebaut wurde."
Unter diesen Umständen wird sich die Bundesregierung aus Union und SPD mit der Regierung in Warschau nicht wegen der Auslieferung von Wolodymir Z. anlegen wollen. Das ließ zumindest der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter in einer Stellungnahme gegenüber dem "Handelsblatt" (17.10.) erkennen: "Aus meiner Sicht war und ist das hochfragwürdige Verhalten Deutschlands in Bezug auf den Bau von Nord Stream eine Belastung für die Beziehungen zu unseren Verbündeten." Er könne "völlig nachvollziehen, dass Italien und Polen kein gesteigertes Interesse daran haben, diese Bürger anzuklagen". Kiesewetter hielt es sogar für möglich, dass die Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren einstellt. Das müsse sie aber selber entscheiden. Die Bundesanwaltschaft wollte sich dazu auf Nachfrage nicht äußern.
Ein zweiter Europäischer Haftbefehl, den die Bundesanwaltschaft gegen einen 
  weiteren namentlich bekannten Tatverdächtigen des siebenköpfigen Sabotage-Teams 
  erließ, führte bisher ebenfalls nicht zur Auslieferung des Festgenommenen. Es 
  handelt sich um den 49-jährigen Ukrainer Serhij K., den die italienische Polizei 
  am 21. August in einem Ferienort bei Rimini verhaftete, als er dort mit Familienangehörigen 
  Urlaub machte (250805). Zunächst hatte ein Gericht 
  in Bologna Mitte September dem deutschen Auslieferungsbegehren stattgegeben. 
  Auf Antrag des Anwalts von K. hob das oberste italienische Gericht in Rom diese 
  Entscheidung jedoch wegen Verfahrensmängeln auf und ordnete eine erneute Verhandung 
  an. Am 27. Oktober teilte der Anwalt mit, dass auch das Berufungsgericht die 
  Auslieferung erlaubt habe, er aber gegen diese Entscheidung erneut Beschwerde 
  beim Kassationsgericht in Rom einlegen werde. Wie Wolodymir Z. bestreitet Serhij 
  K., an dem Anschlag beteiligt gewesen zu sein.