Dezember 2021

211201

ENERGIE-CHRONIK


 


Am Spotmarkt für Gas gab es im Dezember auf dem inzwischen erreichten hohen Niveau geradezu panikartig anmutende Preisausschläge. Der absolute Höhepunkt wurde mit 220 Euro pro Megawattstunde erreicht. Eindeutige Ursachen sind nicht erkennbar, aber es gibt einen bunten Strauß von Vermutungen: Die andauernden Querelen um Nord Stream 2, die noch immer sehr niedrigen deutschen Speicherfüllstände, der Reverse-Betrieb der Jamal-Pipeline in Richtung Polen, der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine oder– hier wäre dann der Kreml ausnahmsweise nicht involviert– der witterungsbedingte Mehrbedarf an Gas wegen schwachen Windstromaufkommens.

Stromio und Neckermann kündigen allen Gas- und Stromkunden die Lieferverträge

Die Stromio GmbH hat kurz vor Weihnachten allen Gas- und Stromkunden die Lieferverträge gekündigt. Ebenso rabiat behandelte die Neckermann Strom AG ihre schätzungsweise 13.000 Stromkunden, wobei sie außerdem Insolvenz beantragte. Für Stromio mit den Schwesterfirmen Gas.de und Grünwelt wurden dagegen bisher keine Insolvenzanträge gestellt. Hier dürfte die Anzahl der Betroffenen um ein Vielfaches höher sein und zumindest im sechsstelligen Bereich liegen. In beiden Fällen wurde den "Versorgern", die eigentlich nur Zwischenhändler sind, ihre starke Abhängigkeit von einer kurzfristig angelegten Beschaffungsstrategie zum Verhängnis. Sie konnten deshalb den neuerdings explodierenden Preisen an den Spotmärkten für Strom und Gas nicht standhalten und erlitten mit ihrem bisherigen Geschäftsmodell Schiffbruch.

Neckermann Strom vermarktet einen alten Nimbus

Die Neckermann Strom AG schmückt sich seit 2014 mit dem Namen des ehemaligen Versandkaufhauses, aus dessen Insolvenzmasse vor neun Jahren der Konkurrent Otto-Versand die Markenrechte erwarb und auch an andere Nutzer weiterverkaufte. Sie will damit vom Nimbus eines ebenso soliden wie billigen Versandhändlers profitieren, den viele noch immer mit diesem Namen verbinden. Anfangs war sie eine GmbH. Als AG firmiert sie erst seit 2019. Dieser Wechsel der Rechtsform hatte wohl ebenfalls kosmetische Gründe, denn die Bilanzsumme von 1,8 Millionen Euro, die im Bundesanzeiger für das Jahr 2019 angegeben wird, ist nicht gerade die übliche Kragenweite für eine Aktiengesellschaft und weniger als halb so groß wie zu GmbH-Zeiten. "Der Gesamtbetrag der Forderungen gegen Mitglieder des Aufsichtsrats beläuft sich auf 306.626,68 Euro", heißt es außerdem in dem vom Geschäftsführer Florian Wessely unterzeichneten Geschäftsbericht, der sehr lapidar gehalten ist.

Stromio hat bei Verbraucherschützern keinen guten Ruf

Stromio hat da schon ein beachtlicheres Kaliber. Mit dieser Firma und ihren Anhängseln verschwindet der bislang größte jener Energievertriebe vom Markt, die ohne eigenes Netz als sogenannte "Energiediscounter" auf Kundenfang gehen und dabei den möglichst billigen Stromeinkauf mit teilweise unseriösen Methoden und Konditionen zum Nachteil der Verbraucher kombinieren. Die Kunden wurden auch hier – wie in diesem Gewerbe üblich – vor allem mit Boni-Versprechungen über die Internetportale Check24 und Verivox geworben (181203). Dabei konnten sie das Bestellformular aber nur abschicken, wenn sie vorab ihre Bankdaten angaben und eine Einzugsermächtigung ausfüllten. Es bedurfte erst einer Klage der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, damit das Landgericht Düsseldorf diese Praxis untersagte. Schon 2011 vergab der Bund der Energieverbraucher seinen Negativpreis "Trübe Funzel" unter anderem an Stromio. Die Stiftung Warentest stellte 2014 fest: "Die Marke Stromio hat keine fairen Tarife."

Beschwerde bei EU-Finanzaufsicht blieb erfolglos

Dass das Geschäftsmodell von Stromio ins Wanken geraten war, zeichnete sich schon vor Monaten ab, als die Firma bei der EU-Finanzaufsichtsbehörde ESMA eine Überprüfung der "Preisrallye am EUA-Aktionsmarkt" verlangte, weil der Preisanstieg für Emissionsberechtigungen ihre bisherigen Kalkulationen gefährdete (210903). Die ESMA fand jedoch keine Anhaltspunkte für Spekulationen, die den – an sich durchaus wünschenswerten – Anstieg der EUA-Preise verursacht haben könnten (211105).

Stromio-Schwester gas.de zog schon Anfang Dezember die Notbremse

Zum Stromio-Komplex gehören auch die gas.de Versorgungsgesellschaft mbH und die Grünwelt GmbH, die unter derselben Adresse in Kaarst bei Düsseldorf angesiedelt sind. Gas.de hat seine Kunden schon Anfang Dezember mit der sofortigen Kündigung aller Lieferverträge ab 3. Dezember überrascht. Wie eine Umfrage des Hessischen Rundfunks ergab, waren davon allein in Hessen mindestens mehr als 12.000 Kunden betroffen. Diese fielen damit automatisch in die "Ersatzversorgung" durch die jeweils zuständigen Grundversorger und sorgten damit bei diesen für neue Probleme (211202). "Heute kommen wir leider mit einer unerfreulichen Nachricht auf Sie zu", hieß es in den Schreiben an die Kunden. "Leider machen es uns die fortlaufenden Entwicklungen auf den Rohstoffmärkten unmöglich, Ihre Versorgung mit Gas fortzusetzen. Wir sehen uns daher leider gezwungen, die Lieferung mit Gas kurzfristig einzustellen."

Stromio-Ableger Grünwelt lockte die Kunden mit Öko-Schmus

In ähnlicher Weise verabschiedete sich wenig später die Grünwelt GmbH von ihren Kunden. Dieser Stromio-Ableger war vor allem darauf angelegt, Strom- und Gaskunden mit Öko-Schmus einzufangen. "Wir machen die Welt ein bißchen grüner", tönte es in der Werbung. "Gemeinsam mit starken Partnern kompensieren wir in ausgewählten Klimaschutzprojekten klimaschädliche CO2-Emissionen unserer Ökogastarife." Außerdem wurde jede Menge "Soziales Engagement" versprochen: "Die Grünwelt Stiftung engagiert sich in zahlreichen Projekten weltweit für Entwicklungshilfe und Umweltschutz." Aber leider musste nun auch diese als Energievertrieb getarnte Wohltätigkeitsorganisation ihr weltweit segensreiches Wirken einstellen. Bei den Gaskunden waren Zeitpunkt und Inhalt der Grünwelt-Kündigungsschreiben mit denen von Gas.de identisch. Die Stromkunden ereilte die Nachricht, dass sich ihr Öko-"Versorger" ab dem 22. Dezember aus dem Staub zu machen gedenke, kurz vor Heiligabend als Weihnachtsgeschenk.

Das ganze Unternehmensgeflecht beschäftigte rund 450 Personen

Als Geschäftsführer von stromio und gas.de zeichnet ein Ömer Varol, bei Grünwelt ein Andreas Bach. Wem das Unternehmen tatsächlich gehört, bleibt unklar. Sicher ist nur, dass die Stromio GmbH ihre Gewinne an eine Universal Utility Investment GmbH & Co. KG abführt, die laut ihrer Selbstbeschreibung im "Bundesanzeiger" vom 19. 1. 2021 als Holding für die beiden operativen Gesellschaften Stromio und Gas.de fungiert und ihrerseits "Teil des CALLAX-Konzerns" ist. Kundenzahlen werden in diesem Geschäftsbericht für das Jahr 2019, der von Ömer Varol unterzeichnet ist, nicht angegeben, aber die Umsatzerlöse mit 1,122 Milliarden Euro beziffert. Das ganze Unternehmensgeflecht beschäftigte etwa 450 Personen. "Die bis 2021 gesicherte Einkaufsmenge" wird für Gas mit 3.536 GWh angegeben und für Strom mit 546 GWh. Die damit verbundenen Zahlungsverpflichtungen beliefen sich bei Gas auf 60,4 Millionen Euro und bei Strom auf 26,5 Millionen Euro.

Energievertrieb bringt 97 Prozent des Konzernumsatzes

Bei der CALLAX-Holding GmbH handelt es sich, dem jüngsten Konzernabschluss im "Bundesanzeiger" für das Jahr 2019 zufolge, um die Dachgesellschaft von derzeit elf operativ tätigen Gesellschaften in Deutschland, Österreich und der Türkei. Hauptgeschäftsfeld ist dabei die Energieversorgung mit der oben erwähnten Utility-Unternehmensgruppe, zu der neben der 2009 gegründeten Stromio GmbH die seit 2010 bestehende Gas.de GmbH und die 2015 hinzugekommene Grünwelt GmbH gehören. Auf diesen Firmenkomplex entfallen insgesamt 97 Prozent des Konzernumsatzes. Außerdem betätigt sich die Callax-Gruppe über die Amperax Energie GmbH auch als Windparkentwickler und über die Callax Telefon Services GmbH im Bereich Telekommunikation. Diese Geschäftsbereiche sind allerdings vergleichsweise unbedeutend. Der Anteil der Telekommunikation am Konzernumsatz wird sogar mit "weniger als 0,2 Prozent" beziffert.

 

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