November 2022

221105

ENERGIE-CHRONIK


EU-Parlament fordert Ausstieg aus der "Energie-Charta"

Das Europäische Parlament hat am 24. Oktober die Kommission und die Mitgliedsstaaten aufgefordert, mit der Vorbereitung eines "koordinierten Rücktritts" von der sogenannten Energie-Charta (Energy Charter Treaty - ECT) zu beginnen. Die Abgeordneten begrüßten, dass die Regierungen Polens, Spaniens, der Niederlande, Frankreichs, Sloweniens, Deutschlands und Luxemburgs bereits entsprechende Absichtserklärungen abgegeben haben.

"Bundesregierung arbeitet mit Hochdruck an einem schnellen Rücktritt vom ECT"

Das Bundeswirtschaftsministerium begrüßte seinerseits die Entschließung des Parlaments: "Dies ist ein weiterer Grund für einen koordinierten EU-Rücktritt", erklärte die Parlamentarische Staatssekretärin Franziska Brantner. "Auch der modernisierte ECT widerspricht unseren Pariser Klimazielen. Daher arbeitet die Bundesregierung mit Hochdruck an einem schnellem Rücktritt Deutschlands vom ECT."

Kommission musste unzureichenden Reformvorschlag wegen mangelnder Unterstützung zurückziehen

Zuvor war die EU-Kommission damit gescheitert, einen von ihr ausgehandelten, aber doch sehr unbefriedigenden Vorschlag zur Reform der "Energie-Charta" vertraglich fixieren zu lassen. Die Unterzeichnung sollte beim 33. Treffen der ECT-Vertragsstaaten stattfinden, das für den 22. November nach Ulan Bator einberufen wurde, da gegenwärtig die Mongolei den Vorsitz führt. Am 21. November ergab indessen eine Abstimmung unter den 27 EU-Botschaftern, dass die Kommission bei ihrem Verhandlungsangebot nicht auf die erforderlichen Unterstützung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten zählen kann. Sie musste deshalb ihren unzureichenden Vorschlag kurzfristig zurückziehen. Wie das ECT-Sekretariat am 22. November mitteilte, beteiligten sich nur 33 der 53 Vertragsstaaten an der Konferenz, die online durchgeführt wurde. "Voraussichtlich" werde im April 2023 ein weiteres Treffen stattfinden, "um die Diskussion über die Annahme der Änderungen des ECT abzuschließen".

Parlament wirft Kommission lasche Verhandlungsführung vor

Der Kommission wird nun vom Parlament vorgeworfen, dass sie es trotz mehrmaliger Aufforderung unterlassen habe, parallel zu den Modernisierungsverhandlungen einen koordinierten Rücktritt der EU-Staaten aus dem Vertrag vorzubereiten, falls es zu keinen befriedigenden Ergebnissen oder zum Scheitern der Verhandlungen kommt. Auch habe sie keine diesbezüglichen Informationen weitergegeben. Das Parlament lässt ferner erkennen, dass es den Vertrag im Grunde schon deshalb für unreformierbar hält, weil "für eine Änderung des ECT ein einstimmiger Beschluss aller Vertragsparteien erforderlich ist, die auf der ECT-Jahreskonferenz abstimmen". Zugleich bekräftigen die Abgeordneten ihre "Besorgnis darüber, dass viele Vertragsparteien, auch industrialisierte Länder mit hohem Einkommen, die Ambitionen der Union zur Modernisierung des ECV beim Klimaschutz, bei der Förderung der nachhaltigen Entwicklung und bei der Unterstützung der Energiewende nicht zu teilen scheinen, obwohl sie allesamt auch Unterzeichner des Übereinkommens von Paris sind". Der Vertrag sei insgesamt ein "Hindernis für den Übergang zur Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen und beim Schutz der Energiesicherheit in der Union".

Energie-Charta sollte ursprünglich vor der Willkür in Russland schützen...

Die "Energie-Charta" kam Anfang der neunziger Jahre als internationales Investitionsschutzabkommen zustande, um ausländische Unternehmen vor der in Russland herrschenden Rechtsunsicherheit zu schützen und ihnen so Investitionen in die dortigen Öl- und Gasvorkommen zu ermöglichen. Sinn der Konstruktion war es, den Kreml direkt für Verletzungen des in Russland weithin nur auf dem Papier stehenden Rechts verantwortlich machen zu können und über ein Verfahren vor dem Schiedsgericht bei der Weltbank in Washington zu entprechenden Entschädigungszahlungen zu verpflichten.

...erleichterte dann aber die Willkür international agierender Konzerne

Als der Vertrag schließlich unter Dach und Fach war, wurde er ausgerechnet von Russland nicht ratifiziert, weshalb er zunächst in Bedeutungslosigkeit versank. Etliche Jahre später haben ihn dann aber zunehmend international agierende Unternehmen als ideales Instrument entdeckt, um auch die Regierungen von Staaten mit intakter demokratischer Rechtsordnung vor dem ICSID-Schiedsgericht in Washington zu verklagen, wenn sie ihre Gewinnerwartungen durch politische Entscheidungen gemindert sahen (siehe Hintergrund, Oktober 2016).

Private Paralleljustiz untergräbt nationales Recht

Zugleich wurde es für die Europäische Union immer wichtiger, diese Fehlkonstruktion aus den neunziger Jahren zu beseitigen, weil die private Paralleljustiz der Schiedsgerichte die Umgehung und Mißachtung des europäischen wie des nationalen Rechts ermöglicht. Ein erster Schritt in dieser Richtung war eine gemeinsame Erklärung, die 22 EU-Staaten am 15. Januar 2019 in Brüssel unterzeichneten und mit der sie den Vorrang des Unionsrechts vor bilateralen Investitionsschutzverträgen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten unterstrichen (190107).

Langfristiger Schutz fossiler Energien gefährdet das Klima

Zum Hauptargument für eine Abschaffung des Vertrags wurde inzwischen jedoch, dass er ausgerechnet Investitionen in fossile Energieträger langfristig ermöglichen und schützen soll. Zum Beispiel dient er RWE und Uniper als Rechtsgrundlage für die Klagen, die sie beim Schiedsgericht der Weltbank in Washington (ICSID) gegen das niederländische Kohleausstiegsgesetz eingereicht haben (210207, 210409) . Besonders fatal wirkt sich aus, dass die Unterzeichnerstaaten auch noch zwanzig Jahre lang nach einem Austritt nicht vor Schadenersatzklagen geschützt sind. Zum Beispiel hat Italien als bisher einziger EU-Staat 2015 seinen Austritt erklärt. Das hinderte aber den britischen Ölkonzern Rockhopper nicht daran, den italienischen Staat 2017 in Washington zu verklagen, weil er Ölbohrungen vor seiner Küste verboten hat. Konkret geht es um ein Ölprojekt, das eine erhebliche Umweltgefährdung gewesen wäre und gegen das Bürgerinitiativen jahrelang gekämpft haben. Rockhopper fordert nun die siebenfache Summe, die tatsächlich investiert wurde. Die "Energie-Charta" lässt es nämlich zu, dass nicht nur erlittene Verluste geltend gemacht werden können, sondern auch die Hochrechnung auf erwartete Gewinne, aus denen wegen Umweltschutzmaßnahmen oder ähnlichen staatlichen Eingriffen nichts geworden ist (siehe Hintergrund, Mai 2021).

 

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