Juni 1996 |
960601 |
ENERGIE-CHRONIK |
Die Wirtschafts- und Energieminister der Europäischen Union haben sich am 20.6. bei einem Sondertreffen in Luxemburg auf eine Richtlinie zur Liberalisierung des Strommarktes geeinigt. Sie ermöglicht ein Nebeneinander des von Frankreich favorisierten Modells des Alleinkäufers (Single Buyer) mit dem des Verhandelten Netzzugangs (NTPA - Negotiated Third Party Access) und entspricht weitgehend dem Kompromißvorschlag der italienischen EU-Präsidentschaft (siehe 960501). Die Richtlinie soll Anfang 1997 in Kraft treten, wenn sie vom Europäischen Parlament angenommen und vom Ministerrat endgültig verabschiedet worden ist. Die beteiligten Länder müßten sie dann innerhalb von zwei Jahren in nationales Recht umsetzen. Die erste Phase des europäischen Strom-Binnenmarktes würde somit Anfang 1999 beginnen. Für Belgien und Irland ist eine zusätzliche Übergangsfrist von einem und für Griechenland von zwei Jahren vorgesehen (SZ, 22.6.; FAZ, 22.6.; FR, 22.6.; Handelsblatt, 24.6.; siehe auch 960602, 960603 u. 960604).
Die Mitgliedsländer können sich entweder für das Modell des Verhandelten Netzzugangs oder das Modell des Alleinkäufers entscheiden. In beiden Fällen muß gewährleistet sein, daß die zugelassenen Großkunden auch tatsächlich beliefert werden können. Die Netzbetreiber dürfen aber eine Durchleitung verweigern, falls sie nicht über die notwendigen Kapazitäten verfügen.
Die Richtlinie sieht eine schrittweise Öffnung der nationalen Strommärkte innerhalb von neun Jahren für solche Großverbraucher vor, welche die Voraussetzungen eines "zugelassenen Kunden" erfüllen. Das jeweilige Ausmaß der Marktöffnung berechnet sich auf der Grundlage des prozentualen Anteils industrieller Großverbraucher mit einem bestimmten Jahresverbrauch am europäischen Gesamtverbrauch: In der ersten Phase dienen die Großkunden mit einem Jahresverbrauch ab 40 Gigawattstunden (GWh) als Berechnungsgrundlage, woraus sich eine Öffnung der nationalen Märkte von etwa 23 Prozent ergibt. Nach drei Jahren wird die Schwelle auf 20 GWh und nach weiteren drei Jahren auf 9 GWh gesenkt. Dadurch erweitert sich die Marktöffnung auf ca. 27 bzw. ca. 33 Prozent.
Großkunden mit einem Jahresverbrauch von über 100 GWh gelten in jedem Fall als "zugelassene Kunden". Die übrigen Unternehmen partizipieren in der Reihenfolge ihres Verbrauchs, bis die jeweils gültige Quote der Marktöffnung erreicht ist.
Es steht den Mitgliedsstaaten frei, ihre Strommärkte noch mehr zu öffnen, als die EU-verbindliche Quote vorschreibt. Auf Wunsch der Bundesregierung, die eine weitergehende nationale Liberalisierung des Strommarktes anstrebt, wurde für diesen Fall eine eine "Anti-Ungleichgewichts-Klausel" aufgenommen. Nach Meinung des Bundeswirtschaftsministeriums stellt sie sicher, "daß deutsche Versorgungsunternehmen Lieferungen über ihr Netz an solche Kunden ablehnen können, die in dem anderen Mitgliedsland nicht ebenfalls zum Wettbewerb zugelassen werden". Nicht zulässig wäre eine solche Ablehnung freilich dann, wenn die EU-Kommission auf Antrag der nationalen Regierung - hier der Bundesregierung - sowie unter Berücksichtigung von Marktsituation und Gemeininteresse die Durchleitung ausdrücklich verfügen würde. Die Klausel gilt für den ganzen Liberalisierungs-Zeitraum von neun Jahren und soll nach viereinhalb Jahren überprüft werden.
Der Prozentsatz der Marktöffnung, der in der bereits beschriebenen Weise anhand der Gesamtzahl der europäischen Großkunden mit einem bestimmten Jahresverbrauch errechnet wird, gilt einheitlich für alle 15 Staaten der Gemeinschaft. Dadurch ergeben sich aber in den einzelnen Ländern unterschiedliche Schwellen für die Anerkennung als "zugelassener Kunde": Z.B. könnten in Deutschland ab 1999 alle Unternehmen partizipieren, deren Jahresverbrauch etwa 35 GWh beträgt, während Großkunden in Finnland und Luxemburg ein Jahresverbrauch von mehr als 100 GWh vorweisen müßten.
Die Höhe der Schwelle wird ferner davon abhängen,
ob und wieweit auch Verteilerunternehmen - z.B. regionale Stromversorger
oder Stadtwerke - in diesen Kreis einbezogen werden. Dies können die
EU-Staaten nach eigenem Ermessen entscheiden. Unabhängig davon garantiert
die jetzt beschlossene Richtlinie den Verteilerunternehmen eine Beteiligung
an der Marktöffnung in dem Umfange, in dem sie Kunden beliefern, die
den Kriterien eines "zugelassenen Kunden" genügen.
Die von Frankreich vertretene Idee eines übergeordneten gemeinwirtschaftlichen Interesses ("service public") bei der Stromversorgung findet ihren Niederschlag in einer Ausnahmebestimmung: Die Mitgliedsländer können von der Richtlinie abweichen, um nicht die Erfüllung von Aufgaben zu gefährden, die ihren Elektrizitätsunternehmen "im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse auferlegt sind". Allerdings - so heißt es im folgenden Satz der Übereinkunft - dürfe dadurch die Entwicklung des Handels zwischen den Mitgliedsstaaten nicht in einer Weise beeinträchtigt werden, die dem Gemeinschaftsinteresse zuwiderläuft. Nach Darstellung des Bundeswirtschaftsministeriums wurde mit diesem Zusatz "auf deutschen Wunsch klargestellt, daß kein Mitgliedsstaat seinen Strommarkt unter Berufung auf gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen seiner Stromversorger nach Belieben abschotten kann".
Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, der noch immer unter einer schweren Malaria-Erkrankung litt, wurde bei dem Luxemburger Treffen durch Staatssekretär Lorenz Schomerus vertreten. Die deutsche Delegation behielt sich vor, ihre endgültige Zustimmung erst bis 1.7. zu erteilen. Diesem Vorbehalt dürfte aber keine praktische Bedeutung zukommen.
Das komplizierte Prozedere der Marktöffnung wurden in den Medien meistens mißverständlich dargestellt: So berichtete DPA noch am 21.6., daß der verabschiedete Richtlinienentwurf zunächst die Großabnehmer mit einem Jahresverbrauch von 40 GWh zum freien Einkauf im Ausland berechtige. Die vereinbarten GWh-Schwellenwerte beziehen sich aber auf die Gesamtzahl aller entsprechenden Großverbraucher in der EU und dienen lediglich als Berechnungsgrundlage für die prozentuale Marktöffnung. Wegen der unterschiedlichen Struktur der Stromwirtschaft in den einzelnen EU-Ländern kann die Schwelle für den Jahresverbrauch der "zugelassenen Kunden", die sich aus diesem Prozentsatz ergibt, sowohl niedriger als auch höher liegen.