Juli 2008 |
080705 |
ENERGIE-CHRONIK |
Auf dem Gelände des französischen Atom-Komplexes Tricastin ist am 7. Juli einer von fünf Tanks ausgelaufen, in denen die Areva-Tochter Socatri uranhaltiges Wasser aus der Urananreicherungsanlage "Eurodif" zur Reinigung und Rückgewinnung von Uran speicherte. Die Ursache war ein Ventil, das nach Wartungsarbeiten nicht richtig geschlossen worden war. Hinzu kam, daß auch das Rückhaltebecken unter den Tanks nicht dicht war. Das uranhaltige Wasser gelangte deshalb über die Kanalisation in den Bach La Gaffière, der das Atomgelände durchfließt, und von diesem in das Flüßchen Lauzon, das etwas unterhalb der Ardèche in die Rhône mündet. Ein Teil versickerte auch ins Erdreich, weshalb längerfristig eine Kontamination des Grundwassers nicht auszuschließen ist. Die Gefahr geht dabei mehr von der hohen Giftigkeit des Urans als von der Radioaktivität aus. Die französische Atomaufsicht ANS stellte bei der Untersuchung des Vorfalls gleich mehrere Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften fest. Sie ordnete den Vorfall aber lediglich in Stufe 1 der internationalen Bewertungsskala INES ein, da sich eine durch ihn bewirkte Kontamination von Menschen nur schwer nachweisen lassen wird. Der Direktor von Socatri wurde entlassen und die Anlage vorläufig stillgelegt.
Auf dieser Ansicht des umfangreichen atomaren Komplexes "Tricastin" am Rhône-Kanal sind nur die vier Reaktoren der EDF (rechts) und die dazugehörigen Kühltürme zu sehen. Das Gelände von Socatri befindet sich hinter den den beiden Kühltürmen. Fotos (3): Leuschner |
Angestellte der Areva-Tochter Socatri, die für die Entsorgung der Urananreicherungsanlage zuständig ist, bemerkten bereits abends um 19 Uhr erste Unregelmäßigkeiten an den Tanks. Es dauerte aber mehr als zehn Stunden, bis sie die Ursache für den vermuteten Fehlalarm herausfanden, das volle Ausmaß des Schadens erkannten und die Atomaufsicht ANS benachrichtigten. Danach dauerte es weitere Stunden, ehe die betroffene Bevölkerung von den Behörden unterrichtet wurde. Die Präfektur des Departements Vaucluse verbot in einer etwa vierzig Quadratkilometer großen Zone südlich Tricastin zwischen Rhône und Rhône-Kanal die Wasserentnahme aus privaten Brunnen, die landwirtschaftliche Bewässerung aus den verseuchten Wasserläufen und Teichen sowie das Angeln in diesen Gewässern.
Anfangs hieß es, daß 300 Kubikmetern Wasser mit 12 Gramm Uran pro Liter aus dem Tank entwichen seien, was insgesamt 360 Kilogramm Uran entsprochen hätte. Später war nur noch von 75 Kilo Uran die Rede. Auch sonst ergab sich aus den Verlautbarungen des Betreibers Areva-Socatri, der französische Atomaufsicht ANS und des staatlichen Instituts für Strahlenschutz und Atomsicherheit (IRSN) kein wirklich klares Bild der Vorgänge.
Über die Kanalisation gelangte das uranhaltige Wasser in das Flüßchen Lauzon |
Das staatliche Institut für Strahlenschutz und Atomsicherheit (IRSN) fand in Grundwasserproben erhöhte Radioaktivität, die sich seiner Meinung nach nicht auf die jetzige Panne zurückführen lassen. Anscheinend wurde der Boden schon früher verseucht. Erst vier Tage vor dem Unglück hatte die kernkraftkritische Wissenschaftlerkommission CRIIRAD auf anormal hohe Strahlenwerte in Tricastin hingewiesen und mit der Existenz von 770 Tonnen radioaktiven Abfalls aus dem militärischen Teil des Atom-Komplexes in Verbindung gebracht, die man zwischen 1969 und 1976 einfach mit Erde überdeckte. Aus dem so entstandenen Hügel könnte Radioaktivität in den Boden gelangt sein (siehe Karte).
Am 17. Juli entdeckte man in der Brennelementefabrik der Areva-Tochter FBFC in Romans-sur-Isère, daß eine unterirdische Leitung zwischen zwei Betriebsteilen schadhaft geworden war, in der eine Uran-Lösung zirkulierte. Die Fabrik in Romans-sur-Isère befindet sich rund 80 Kilometer nördlich von Tricastin und wird von dort mit Brennstabhüllen beliefert. Die Atomaufsicht ASN stellte fest, daß der Schaden anscheinend schon seit mehreren Jahren bestand. Sie ordnete den Vorfall in Stufe 1 der INES-Skala an. Angaben zum Umfang der ausgetretenen Mengen machte sie vorläufig nicht.
Infolge der erhöhten Sensibilität für Tricastin berichteten französische Medien am 23. Juli auch über einen jener Vorfälle, wie sie in französischen Kernkraftwerken alltäglich vorkommen, aber nicht an die Öffentlichkeit gelangen, weil sie von der Atomaufsicht ASN auf der INES-Skala mit dem niedrigsten Wert 0 eingestuft und erst gar nicht publiziert werden. In diesem Fall sollen bei einer Inspektion im KKW Tricastin radioaktive Elemente aus einem Schlauch entwichen sein und etwa 100 Menschen "leicht" kontaminiert haben. Der Direktor der Anlage, Alain Peckre, bezeichnete den Vorfall als belanglos.
Rund um die Atomanlage Tricastin ist die ansonsten eher kernenergiefreundliche Haltung der französischen Bevölkerung einer skeptischen bis ablehnenden Haltung gewichen. Die Gemeinde Bollène auf dem gegenüberliegenden Ufer des Rhône-Kanals beklagte sich über negative Auswirkungen der Vorfälle auf den Tourismus. Die Winzer befürchten, daß die Herkunftsbezeichnung "Côte du Rhône" als atomar kontaminierter Wein in Verruf gerät.
Die Areva-Tochter Socatri ist für die Entsorgung der Urananreicherungsanlage zuständig. |
Zweieinhalb Wochen vor der Panne in Tricastin hatte der französische Umweltminister Jean-Louis Borloo am 18. Juni ein Komitee eingesetzt, das den in einem Gesetz vom 13. Juni 2006 verankerten Anspruch der Bürger auf Information über die Risiken der Kernenergie garantieren soll. Dieses "Haut Comité pour la transparence et l'information sur la sécurité nucléaire" (HCTISN) trat nun anläßlich des Vorfalls in Tricastin zum ersten Mal zusammen. Allerdings geschah dies erst am 16. Juli, also neun Tage nach dem Unfall. Das Ergebnis war ein recht allgemein gehaltenes Kommuniqué, das den bisherigen offiziellen Stellungnahmen nichts wesentliches hinzufügte. Die beiden kernkraftkritischen Organisationen "Sortir du nucléaire" und CRIIRAD erhielten die Einladung zu einem Gespräch, das aber erst nach den Sommerferien am 23. September stattfinden soll.
Anscheinend soll das Komitee, dessen Mitglieder von der Regierung ernannt wurden,
vor allem die neue Kernkraft-Offensive des französischen Präsidenten Sarkozy
absichern helfen. Um die Öffentlichkeit zu beschwichtigen, teilte Umweltminister
Borloo am 17. Juli mit, daß er das Komitee beauftragt habe, das Grundwasser
in der Nähe aller Nuklearanlagen zu untersuchen. Die Areva-Direktorin Anne Lauvergeon
begab sich am 18. Juli nach Tricastin, um dort Gespräche mit Socatri-Beschäftigten
sowie Vertretern der Verwaltung und des öffentlichen Lebens zu führen.
Der atomare Komplex von Tricastin (Pierrelatte) |
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CEA = ehemalige Urananreicherungsanlage für den Bau der französischen Atombomben und Forschungszentrum für Atomwaffen (1963 - 1996). Inzwischen eine Altlast des staatlichen Atomenergiekommissariats CEA. FBFC = Areva-Fabrik für Uranbrennelemente und Kontrollstäbe für Leichtwasserreaktoren. Seit 1998 nur noch Zulieferer von Brennstabhüllen für die FBFC-Brennelementefabrik Romans-sur-Isère Comurhex = Urankonversionsanlage der Areva (früher Société des Usines Chimiques de Pierrelatte) Cogema Pierrelatte = Auf die Uran-Chemie spezialisiertes Unternehmen der Areva zur Herstellung von abgereichertem Urandioxid für Mischoxidbrennstäbe (MOX) Eurodif = Urananreicherungsanlage der Areva. Sie arbeitet bisher nach dem Gasdiffusionsverfahren und benötigt zwei Drittel der Stromerzeugung des Kernkraftwerks Tricastin. Sie soll demnächst durch eine neue Anlage ersetzt werden, die das Gaszentrifugenverfahren verwendet und deshalb nur noch 50 statt 3000 MW benötigt. CNPE = Die vier Druckwasserreaktoren des EDF-Kernkraftwerks Tricastin mit einer Leistung von jeweils 915 MW, die bisher größtenteils für die Urananreicherungsanlage Eurodif verwendet wird (CNPE = Centre nucléaire de production d'électricité). Socatri = Areva-Tochterunternehmen zur Wartung und Entsorgung von Eurodif, auch für den Abriß der Eurodif-Altanlage zuständig. BCOT = Früher von Socatri, jetzt von EDF betriebenes Zwischenlager für radioaktive Abfälle (BCOT = Base Chaude Opérationnelle du Tricastin) |
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Tricastin gilt als größte Atomanlage der Welt. Der Komplex am Rhône-Kanal südlich des Ortes Pierrelatte entstand in den sechziger Jahren zur Herstellung von angereichertem Uran für die französische Atombombenproduktion. In den siebziger Jahren wurden hier vier Druckwasserreaktoren mit einer Gesamtleistung von 3660 Megawatt errichtet. Ihr Strom wird aber bisher größtenteils für die seit 1979 in Betrieb befindliche Urananreicherungsanlage Eurodif verbraucht, die den Namen des 1986 von der "Action Directe" ermordeten Renault-Direktors Georges Besse trägt. Auf dem über 600 Hektar großen Gelände arbeiten rund sechstausend Menschen für den staatlichen Atomkonzern Areva und den Stromversorger Eléctricité de France (EDF) sowie deren Tochterfirmen und Partner. Tricastin ist auch als Standort für einen weiteren Europäischen Druckwasserreaktzor (EPR) im Gespräch (041006). |