Dezember 2022

221208

ENERGIE-CHRONIK




Die Kosten der "vermiedenen Netzentgelte" stiegen unentwegt und erreichten 2017 mit 2,526 Milliarden Euro ihren Höhepunkt. Dann begannen sich die Abstriche auszuwirken, die mit dem "Netzentgeltmodernisierungsgesetz" verfügt wurden (170604). Diese waren aber sehr bescheiden. Nachdem es auch jetzt nicht zur Beseitigung dieser absurden Vergütung gekommen ist, können die Betreiber von Bestandsanlagen noch jahrelang Prämien in Milliardenhöhe kassieren.

Streichung der "vermiedenen Netzentgelte" wurde gestrichen

Das Gesetz zur Einführung einer "Strompreisbremse", das der Bundestag am 15. Dezember beschloss (221201), sollte zugleich die Prämien für "vermiedene Netzentgelte" abschaffen. Durch die Artikel 2 und 3 des Gesetzes wären die einschlägigen Bestimmungen im Energiewirtschaftsgesetz (§ 120) und in der Stromnetzentgeltverordnung (§ 18 Abs. 1) ersatzlos gestrichen worden. Damit wären ab 1. Januar 2023 diese unsinnigen Prämien endlich komplett entfallen und die Netzentgelte um mehr als eine Milliarde Euro entlastet worden. Dazu kam es aber nicht, weil es der Lobby auch dieses Mal gelang, die Regierung unter Druck zu setzen. Aufgrund eines Änderungsantrags von SPD, Grünen und FDP nahm der Ausschuss für Klima und Energie die Streichung der Streichung kurzfristig in seine Beschlussempfehlung auf, die er einen Tag vor der Plenarsitzung vorlegte.

Dabei ist sich die Fachwelt darin einig, dass die Zahlungen für "vermiedene Netzentgelte" keineswegs mit tatsächlich vermiedenen Netzentgelten begründet werden können, zumal sie selber ein Bestandteil der Netzentgelte sind und diese entsprechend erhöhen. Auch sonst ist kein irgendwie gearteteter Nutzen dieser Prämien zu erkennen, wenn man mal davon absieht, dass sie für die Empfänger natürlich ein willkommener Geldsegen sind. Das lässt sich sogar dem neuesten Monitoringbericht der Bundesnetzagentur entnehmen, wo zu diesem Thema festgestellt wird: "Die Einführung des Prinzips der vermiedenen Netzentgelte beruhte auf den Annahmen, dass die Flussrichtung des Stromes von der höchsten zur niedrigsten Spannungsebene erfolgt. Die Annahme, dass die dezentrale Einspeisung mittel- bis langfristig zu einer Reduzierung der Netzausbaumaßnahmen führen würde, stammt aus der Zeit der Jahrtausendwende und ist jedenfalls heute unzutreffend."

Lobby will dauerhaft Millionenbeträge ohne Gegenleistung kassieren

Schon vor sechs Jahren war es den Nutznießern dieser Prämien gelungen, deren Abschaffung zu verhindern. Damals stand das sogenannte "Netzentgeltmodernisierungsgesetz" zur Beratung an, mit dem Union und SPD die "vermiedenen Netzentgelte" ab 2023 nur noch für Bestandsanlagen gewähren wollten. Allerdings sollten sie auch diesen nur noch befristet zugestanden werden und bis zum Jahr 2030 völlig auslaufen (161110). In der vom Bundestag beschlossenen Fassung war dann jedoch von einer langfristigen Abschaffung keine Rede mehr (170604). Und zwar deshalb, weil aus dem Netzentgeltmodernisierungsgesetz "bestenfalls ein Reförmchen" geworden war, wie der SPD-Sprecher Johann Saathoff in der Bundestagsdebatte selbstkritisch feststellte (170604).

Auf diesen Erfolg pochte nun die Lobby, wenn sie den damaligen Verzicht auf eine zumindest perspektivische Abschaffung als ewigen Bestandsschutz zu interpretieren versuchte. Jedenfalls warf sie in einer vom 2. Dezember datierten Protesterklärung der Bundesregierung vor, die komplette Abschaffung sende "ein verheerendes Signal für das Vertrauen in gesetzgeberische Festlegungen aus". Mit einem überraschenden "Handstreich" würden das Investorenvertrauen gefährdet und falsche Signale für die Energiewende gesetzt. Für Bestandsanlagen seien die Prämien ein wichtiger Erlösbestandteil, der bei betroffenen Stadtwerken und Anlagenbetreibern "schnell einen Millionenbetrag pro Jahr" ausmache. Unterzeichner der Protesterklärung waren der Deutsche Städtetag, der Deutsche Landkreistag, der Deutsche Städte- und Gemeindebund, die Gewerkschaft Verdi, der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), der Fernwärme-Verband AGFW und der Verband kommunaler Unternehmen (VKU).

Die angeblich vermiedenen Netzentgelte sind nur ein Vorwand für Beihilfen ohne Sinn und Gegenleistung

Dem Begriff der "vermiedenen Netzentgelte" liegt die Fiktion zugrunde, dass es sinnvoll und notwendig sei, Stadtwerke und andere kleine Stromerzeuger mit einer besonderen Prämie zu belohnen, wenn sie "dezentral" ins Verteilnetz einspeisen, weil dadurch die Netzausbaukosten geringer würden. Diese Annahme war jedoch von Anfang an eine zweckdienliche Erfindung, weil derartige Kraftwerke sowieso nicht ins Übertragungsnetz einspeisen, sondern in die jeweils passende Ebene der Verteilnetze (Hochspannung, Mittelspannung oder Niederspannung). Die Kraftwerksbetreiber bekommen also einen Bonus ohne irgendeine Gegenleistung. Der angebliche Anreiz wirkt sich allenfalls kontraproduktiv aus: Zum Beispiel hat RWE einen neuen Block seines Kraftwerks Westfalen, der zunächst nur ins Übertragungsnetz einspeiste, auch an das 110-kV-Netz der Verteilebene angeschlossen, um von den "vermiedenen Netzentgelten" profitieren zu können (181205). Allerdings hat sich der Aufwand dann doch nicht gelohnt, weil die Bundesnetzagentur die Auszahlung der Prämien untersagte.

Kraftwerksbetreiber bekommen Netzentgelte erstattet, obwohl sie gar keine zahlen müssen

Die Vergütungen für "vermiedene Netzentgelte" nach § 18 Abs. 1 der Stromnetzentgeltverordnung widersprechen logisch dem § 15 Abs. 1 derselben Verordnung, wo ausdrücklich festgehalten wird, daß für die Einspeisung elektrischer Energie keine Netzentgelte zu entrichten sind. Die Kraftwerksbetreiber können also gar keinen Anspruch auf die (Rück-)Zahlung vermiedener Netzentgelte erheben. Einen solchen Anspruch hätten allenfalls die Stromlieferanten bzw.deren Kunden, die für die Netzentgelte letztendlich aufkommen müssen. Stattdessen bekommen diese seit über zwei Jahrzehnten zusätzlich zu den real erhobenen Netzentgelten auch noch die Prämien für angeblich vermiedene Netzentgelte aufgehalst...

Der Begriff entstand zu einer Zeit, als in der Stromwirtschaft "unglaublich viel Beschiss" herrschte

Der Begriff "vermiedene Netzentgelte" war von Anfang an äußerst fragwürdig, weil er eine zwischen den Akteuren der Stromwirtschaft ausgekungelte Belastung der Netzentgelte tarnen sollte, für die es keine stichhaltige sachliche Begründung gab. Er entstand zu jener Zeit, als in der deutschen Stromwirtschaft buchstäblich gesetzlose Zustände herrschten, weil neoliberale Wirtschaftsideologen und Politiker die 1998 verfügte Liberalisierung des Energiemarktes (980401) ohne detaillierte gesetzliche Regelungen durchsetzen wollten. Die Politik verzichtete bewußt auf die mögliche Ausfüllung des in § 6 des Energiewirtschaftsgesetzes verankerten "verhandelten Netzzugangs" mit detaillierten Vorschriften. Deshalb konnten nun dort, wo der alte Rechtsrahmen außer Kraft gesetzt worden war oder nicht mehr ausreichte, die großen Akteure der Stromwirtschaft selber entscheiden, wie sie sich die Liberalisierung vorstellten. Vor allem durften sie selber über die Höhe der Netzentgelte befinden, die fortan zu zahlen waren, wenn andere Lieferanten die Netze der etablierten Versorger für Stromlieferungen nutzen wollten. Sie nutzten diesen Blankoscheck dann auch weidlich für überhöhte Netzentgelte und andere Schikanen, die den um das Jahr 2000 herum vorübergehend entstandenen Wettbewerb wieder abwürgten (030103, 030208). Kodifiziert wurde die Höhe der Netzentgelte in den sogenannten Verbändevereinbarungen. "Da ist unglaublich viel Beschiß im Spiel, schlicht Beschiss", befand damals sogar der durchaus branchenfreundlich gesinnte Bundeswirtschaftsminister Werner Müller (010406).

Zunächst war die abstruse Vergütung nur ein unverbindlicher Bestandteil der Verbändevereinbarungen...

In der dritten dieser Verbändevereinbarungen, mit denen man den liberalisierten Schlamassel in den Griff zu bekommen versuchte – der sogenannten VV II plus - tauchte im Dezember 2001erstmals der Begriff "vermiedene Netzentgelte" auf. Geprägt wurde er vermutlich vom Verband der Netzbetreiber (VDN), der ein halbes Jahr zuvor gegründet worden war, um die stark divergierenden Interessen der Strombranche unter einen Hut zu bringen (010609), aber schon sechs Jahre später im neu entstandenen Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) aufging (070617). Mit der Selbstauflösung des VDN reagierte die Stromwirtschaft auf die Einsetzung der Bundesnetzagentur als Aufsichtsbehörde für die gesamte Branche. Inzwischen hatte man nämlich auch in Deutschland eingesehen, daß der "verhandelte Netzzugang" ein Irrweg war und sich die Einsetzung einer Regulierungsbehörde nicht länger umgehen ließ. Im Juli 2005 trat eine ganze Reihe entsprechender Gesetzesänderungen in Kraft. Es handelte sich um die Neufassung des Energiewirtschaftsgesetzes, das Gesetz über die Bundesnetzagentur und vier Verordnungen, die den Netzzugang und die Netzentgelte für Strom und Gas im Detail regelten (050701).

...der dann aber in die Stromnetzentgeltverordnung gelangte und rechtlich verbindlich wurde

Der Branchen-Lobby gelang es indessen, die bisherige Praxis der Verbändevereinbarungen vielfach unverändert in die neuen gesetzlichen Bestimmungen zu übertragen. Zum Beispiel wurden die Kalkulationsprinzipien der neuen Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV) weitgehend aus der zuletzt gültigen VV II plus übernommen (071102). Mit dem Prozedere zur Ermittlung der Netzentgelte gelangten so auch die abstrusen Vergütungen für "vermiedene Netzentgelte" in die Stromnetzentgeltverordnung. Sie wurden damit rechtsverbindlich, während sie früher nur eine Art Abmachung zur Aufteilung des Netzentgelte-Kuchens innerhalb der Branche waren. Denn nur um die Aufteilung dieses Kuchens ging es, als die Großstromerzeuger ihren kleineren Konkurrenten diese maßgeschneiderte Gratifikation zugestanden. Die These von den vermiedenen Netzentgelten war also nicht etwa der sachliche Beweggrund für den Deal, sondern diente dessen ideologischer Einkleidung, um bei Außenstehenden den Eindruck einer technisch leider notwendigen und deshalb widerspruchslos hinzunehmenden Belastung der Netzentgelte zu erwecken. Anscheinend funktioniert diese Masche bis heute, wie das Einknicken der Parlamentarier vor der Lobby der Nutznießer zeigt (siehe auch Hintergrund, Mai 2016).

 

Links (intern)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

r?