Mai 2024 |
240503 |
ENERGIE-CHRONIK |
Der von der neokonservativen Zeitschrift "Cicero" mit Unterstützung der "Bild"-Zeitung in Umlauf gebrachte Vorwurf, die Bundesregierung habe bei ihrer anfänglichen Ablehnung einer Laufzeiten-Verlängerung für die drei letzten Kernkraftwerke "Geheimakten" unterschlagen, fällt inzwischen der CDU/CSU auf die Füße. Die Christdemokraten hatten sich diesen verschwörungstheoretischen Humbug ebenfalls zu eigen gemacht, indem sie den fadenscheinigen Artikel zum Anlass nahmen, um am 26. April eine kurzfristig angesetzte öffentliche Sitzung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie im Bundestag zu erzwingen (240407). Nun stellte sich jedoch heraus, dass es weitaus ergiebiger wäre, nach den Leichen im Keller der seinerzeitigen schwarz-gelben Koalition zu suchen. Diese hatte nämlich, als sie 2010 eine exzessive Laufzeiten-Verlängerung für die 17 noch am Netz befindlichen deutschen Kernkraftwerke beschloss, die für die nukleare Sicherheit zuständige Fachabteilung des Umweltministeriums erst gar nicht gefragt und dann deren Bedenken in den Wind geschlagen, als sie sich doch zu Wort meldete.
Wie die "Süddeutsche Zeitung" am 29. Mai berichtete, wollten Union und FDP die Laufzeiten aller Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre verlängern, ohne das im Umweltministerium zuständige Referat RS13 zu konsultieren, das für die Atomaufsicht und "Grundsatzangelegenheiten der nuklearen Sicherheit" zuständig ist. Dennoch habe sich diese Arbeitsgruppe im April 2010 mit einem "Sachstandsvermerk" zu Wort gemeldet. Sie habe moniert, nicht in die Beratungen eines "Bund-Länder-Arbeitskreises" einbezogen worden zu sein, der eine Liste mit langfristig erforderlichen Nachrüstungen anfertigen sollte, damit die Reaktoren länger laufen können. Grundsätzlich drohe durch eine vorab festgelegte Liste der notwendigen Nachrüstungen "ein erheblicher Sicherheitsrückschritt", weil sie es der Atomaufsicht erschweren könne, zusätzlich notwendige Maßnahmen zu verlangen. Ferner wurde beanstandet, dass nach den Plänen der schwarz-gelben Koalition ältere Kernkraftwerke wie Biblis A, Brunsbüttel und Neckarwestheim 1 "ohne Nachrüstungen zunächst weiter laufen" sollten, obwohl sie "erheblich weniger Sicherheitsreserven als modernere Kernkraftwerke" hätten.
Mitte August 2010 wandte sich die Arbeitsgruppe RS13 – das Kürzel RS steht für Reaktorsicherheit – direkt an den damaligen Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), mit Kopien für alle Staatssekretäre des Ministeriums. Die Beamten kritisierten, dass der schwarz-gelbe Gesetzentwurf für die Laufzeitenverlängerung zu Unrecht davon ausgehe, dass bei Reaktoren mit mehr als 30 Jahren Laufzeit "Schäden nach dem Stand von Wissenschaft und Technik ausgeschlossen sind und folglich auch die Laufzeitenverlängerung praktisch keine Risikoerhöhung bewirke". Diese Annahme sei unzutreffend. Insgesamt könne die Arbeitsgruppe die vorgelegten Entwürfe nicht billigen.
Die Beamten gingen damit an die äußerste Grenze des Widerspruchs, der ihnen nach dem Beamtenrecht gestattet ist, wenn sie Bedenken gegen eine Gesetzgebung oder sonstige geplante Maßnahme haben. Falls der unmittelbare Vorgesetzte eine solche "Remonstration" zurückweist oder einfach nicht beachtet, unterliegen sie dennoch der Gehorsamspflicht, sofern sie dadurch nicht eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begehen. Allenfalls könnten sie sich noch an den jeweils nächsthöheren Vorgesetzten wenden, was aber in der Regel der weiteren Karriere abträglich ist. In die Öffentlichkeit tragen durften sie den Konflikt keinesfalls.
Im Umweltministerium war der oberste Vorgesetzte damals Norbert
Röttgen. Ob und in welcher Weise dieser auf die Kritik der Abteilung RS13 reagiert hat, geht
aus dem
Bericht nicht hervor. Die Unterlagen aus dem Umweltministerium, auf
die sich
der Artikel stützt, geben dazu anscheinend keine Auskunft. Röttgen war bekanntlich nicht gerade ein Fan der Kernenergie (091113).
Andererseits oblag es ihm, die von Union und FDP mit den KKW-Betreibern
vereinbarte Laufzeiten-Verlängerung möglichst zügig und geräuschlos
umzusetzen. Als er im Mai 2010 die Ansicht äußerte, dass längere
KKW-Laufzeiten "tendenziell der Zustimmung des Bundesrats" bedürften,
ging das manchen Parteifreunden schon zu weit. Der damalige
baden-württembergische Ministerpräsident Mappus (CDU) legte ihm deshalb
sogar den Rücktritt nahe (100509). Das hätte
sich schnell wiederholen und zum Eklat auswachsen können, wenn er der
Kritik aus dem eigenen Hause Gehör geschenkt hätte.
zur Auseinandersetzung um die Laufzeiten-Verlängerung in den Jahren 2009/2010
zum atompolitischen Kurswechsel von Union und FDP nach Fukushima