Juli 2022

220709

ENERGIE-CHRONIK


Regierung lässt "Streckbetrieb" für Reaktor Isar 2 prüfen

Die Bundesregierung lässt derzeit die Übertragungsnetzbetreiber erneut prüfen, ob eine Aufhebung der Abschalttermine für die drei letzten Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland sinnvoll sein könnte. Dies bestätigte am 18. Juli eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums. Faktisch geht es vor allem um das Kernkraftwerk Isar 2, das im neuen Jahr im "Streckbetrieb" angeblich noch etwa fünf Terawattstunden erzeugen könnte, bevor die Brennelemente ganz erschöpft sind.

Im Münchener Stadtrat hat sich eine breite Mehrheit für eine solche Verlängerung ausgesprochen, weil die Kompensation der entfallenden KKW-Leistung netztechnisch nicht ganz einfach sein dürfte (und beispielsweise einen vermehrten Einsatz der drei Gas-Blöcke im Kraftwerk Irsching erfordern könnte). Der Aufsichtsrat der Stadtwerke München(SWM), die neben dem Haupteigentümer E.ON mit 25 Prozent an Isar 2 beteiligt sind, fasste ebenfalls einen entsprechenden Beschluss. In beiden Fällen wurde die Forderung auch von Vertretern der Grünen unterstützt. "Sollte der Stresstest des Bundeswirtschaftsministeriums ergeben, dass München ein Engpass bei der Stromversorgung droht, darf ein Streckbetrieb von Isar 2 kein Tabu sein", erklärte die grüne Münchener Bürgermeisterin Katrin Habenschaden

Abschalttermine haben den Atomausstieg verzögert, anstatt ihn zu beschleunigen

Die festen Abschalttermine für die noch am Netz befindlichen neun Reaktoren wurden 2011 neben anderen kontraproduktiven Zutaten von der schwarz-gelben Koalition dem alten Atomausstiegsgesetz eingefügt, um den Anschein einer besonders radikalen Abkehr von der Kernenergie zu erwecken. Sie waren schon immer populistischer Unsinn, weil das Tempo des Atomausstiegs weiterhin von den im Jahr 2000 vereinbarten Reststrommengen vorgegeben wurde, deren Abarbeitung sie nur verzögerten. Ohne sie und ohne die damals erfolgte sofortige Abschaltung von acht älteren Reaktoren wäre die vor zwanzig Jahren gesetzlich fixierte Reststrommenge von 2623 Terawattstunden ab dem Jahr 2000 schon lange abgearbeitet worden. Zugleich hätte der Staat die 2,4 Milliarden Euro sparen können, mit denen er vor einem Jahr die KKW-Betreiber für jene Reststrommengen entschädigte, die sie bis zum Inkrafttreten der drei letzten Abschalttermine am 31. Dezember 2022 nicht mehr erzeugen können (siehe Hintergrund, März 2021).

Nutzen einer Laufzeiten-Verlängerung lässt sich nur mit echtem Sachverstand beurteilen

Insofern gibt es keinen Grund, die Abschalttermine zu verteidigen, als ob von ihnen der Atomausstieg abhinge. Die Frage ist vielmehr, ob ein Weiterbetrieb zur Nutzung der in den Brennelementen noch vorhandenen Restleistung sinnvoll wäre, weil dies nach Abwägung aller Vor- und Nachteile dazu beitragen könnte, die besonders kritische Situation im kommenden Winterhalbjahr zu meistern. Allein die Prüfung des begrenzten Aspekts, ob und wieweit ein Weiterbetrieb netztechnisch von Vorteil wäre, setzt einen Sachverstand voraus, über den allenfalls die Experten der Übertragungsnetzbetreiber verfügen. Hinzu kommt ein Rattenschwanz von weiteren technischen und juristischen Fragen. Zur Beurteilung dieser Gesamtproblematik sind Politiker wie der bayerische Ministerpräsident Söder bestimmt nicht in der Lage. Und auch das von der Landesregierung in Auftrag gegebene Gutachten des TÜV Süd, auf das Söder sich bei der Forderung nach längeren Laufzeiten beruft, steht auf ungefähr so schwachen Füßen wie jener brasilianische Damm, dem der TÜV Süd die Standfestigkeit bescheinigte, bevor er dann doch brach und eine Katastrophe mit mindestens 259 Toten auslöste (220710).

Söder droht einst mit seinem Rücktritt, falls der Atomausstieg nicht bis 2022 zustande kommt

In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass der wohl wildeste aller Unions-Populisten schon mal genau die entgegengesetzte Position vertreten hat. Wie die "Süddeutsche Zeitung" am 26. Mai 2011 berichtete, drohte Söder damals in einer Sitzung des bayerischen Kabinetts als Umweltminister mit seinem Rücktritt, falls die Landesregierung nicht geschlossen die Abschaltung aller Kernkraftwerke bis 2022 unterstütze. Der Koalitionspartner FDP – bis dahin die verlässlichste politische Hilfstruppe der Nuklearwirtschaft, die sich dafür entsprechend finanziell erkenntlich zeigte – wollte nämlich frühestens "Mitte des nächsten Jahrzehnts" mit dem Atomausstieg beginnen, den die Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU) und Horst Seehofer (CSU) inzwischen auf 2022 terminiert hatten. Die Affäre endete damit, dass Seehofer den bayerischen FDP-Wirtschaftsminister Martin Zeil dann doch noch auf die in Berlin beschlossene Marschroute der schwarz-gelben Koalition einschwören konnte. Söder brauchte also nicht als Umweltminister zurückzutreten. Er könnte das nun aber als Ministerpräsident nachholen, falls es für Isar 2 doch noch zu einer Verlängerung der Laufzeit kommt...

Restnutzung der Reaktoren dient Unionspolitikern als Nebelkerze für den Einstieg in den Atomausstieg

Söder und andere Politiker von Union und FDP wollen sich jedoch keineswegs mit einer kurzfristigen Restnutzung der vorhandenen Brennelemente im kommenden Winterhalbjahr begnügen. Sie verlangen vielmehr auch einen Weiterbetrieb der drei letzten Reaktoren mit neuen Brennelementen, um so letztendlich eine Renaissance der Kernenergie in Deutschland herbeizuführen. Sie glauben offenbar, mit einer derartigen Perspektive bei vielen Wählern wieder punkten zu können, nachdem das Vertrauen in eine gesicherte Energieversorgung durch die Gaskrise erschüttert worden ist, die Putin zur wirtschaftlichen Sabotage und politischen Spaltung Westeuropas inszeniert hat. Im Grunde sind es nicht einmal energiepolitische Überlegungen, die sie dazu veranlassen, sondern rein opportunistische Erwägungen – ganz ähnlich wie bei der atemberaubenden atompolitischen Volte, die Union und FDP nach der Katastrophe von Fukushima vor elf Jahren vollführt haben. Mit dieser Art von Populismus leisten sie keinen Beitrag zur Bewältigung der aktuellen Krise, sondern arbeiten sogar Putin in die Hände. Nur die FDP laviert noch ein bißchen, weil sie genau weiß, dass sie ans Eingemachte der Bundesregierung rührt, denn im Koalitionsvertrag vom November 2021 heißt es eindeutig: "Am deutschen Atomausstieg halten wir fest."

Auch die Münchener Grünen sehen den "Versuch, die derzeitige Krise zu instrumentalisieren, um den Atomausstieg durch die Hintertür zu kippen"

Es geht Söder und ähnlichen Politikern sowie ihren medialen Unterstützern also nicht nur um eine Restnutzung des Reaktors Isar 2 im bevorstehenden Winterhalbjahr, die angesichts der Gaskrise sinnvoll sein könnte. Sie fassen vielmehr einen Weiterbetrieb bis ins Jahr 2024 und länger ins Auge, wobei der Streckbetrieb lediglich dazu dienen würde, die Zeitspanne bis zur Bestückung des Reaktors mit neuen Brennelementen zu überbrücken. Darauf wollen sich aber auch der Münchener Oberbürgermeister Dieter Reiter und die ihn unterstützende Rathauskoalition aus SPD und Grünen keinesfalls einlassen. Für den Münchener Grünen-Vorsitzenden Joel Keilhauer sind entsprechende Vorstöße der CSU im Stadtrat "nichts anderes als der Versuch, die derzeitige Krise zu instrumentalisieren, um den Atomausstieg durch die Hintertür zu kippen".

Werden sich die Hamsterkäufe von elektrischen Heizgeräten auf den Strom- und Gasverbrauch auswirken?

In ihrem "Prüfvermerk zur Debatte um die Laufzeiten von Atomkraftwerken", den sie am 8. März gemeinsam vorlegten, haben die beiden Bundesministerien für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) gute Gründe dafür angeführt, weshalb an den Abschaltterminen trotz deren generellen Fragwürdigkeit nicht mehr gerüttelt werden sollte, da der Aufwand den eventuellen Nutzen nicht lohnen würde (siehe PDF). Diese Bedenken bleiben nach wie vor gültig. Bei ihrer erneuten Abwägung gegen andere Gesichtspunkte werden die Übertragungsnetzbetreiber unter anderem prüfen müssen, wieweit die neuerdings zu beobachtenden Hamsterkäufe von elektrischen Heizgeräten im kommenden Winter zu einem vermehrten Bedarf an Strom und damit an Gas zum Ausgleich von Lastspitzen führen könnten (220707) .

 

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