November 2022 |
221103 |
ENERGIE-CHRONIK |
Mit den Stimmen der Regierungsparteien billigte der Bundestag am 11. November den kurzfristigen Weiterbetrieb der drei letzten Reaktoren, wie ihn das Bundeskabinett am 19. Oktober beschlossen hat (221002). Die Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland dürfen damit noch bis zum 15. April Strom erzeugen, anstatt zum Jahresende stillgelegt zu werden, wie das seit über zehn Jahren im Atomgesetz vorgesehen war. Der neu ins Gesetz eingefügte § 7 (1e) knüpft dieses Erlaubnis jedoch an die Bedingung, dass die Restnutzung nur mittels der vorhandenen Brennelemente erfolgen darf.
Zugleich befreit dieser Paragraph die KKW-Betreiber E.ON, EnBW und RWE ein weiteres Mal von der alle zehn Jahre vorgeschriebenen Sicherheitsüberprüfung nach § 19a Abs.1. Diese großangelegte Sicherheitsüberprüfung hätte für alle drei Reaktoren eigentlich schon bis Ende 2019 stattfinden müssen. Sie wurde den Betreibern aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit erlassen, da die Reaktoren zum Jahresende 2022 ohnehin stillgelegt werden sollten. Die jetzige Verlängerung dieser Dispensierung begründete die Bundesregierung mit dem "äußerst kurzen Zeitraum des Weiterbetriebs", in dem es sowieso nicht möglich wäre, eine derartige Untersuchung durchzuführen und eventuell gewonnene Erkenntnisse umzusetzen.
Die Änderung des Atomgesetzes wurde in namentlicher Abstimmung mit 375 gegen 216 Stimmen bei 70 Enthaltungen angenommen. Mit Nein stimmten alle Abgeordneten der Unionsparteien und der Linken, während die rechtsextreme AfD Enthaltung übte. Auffällig war, dass auch neun Abgeordnete der Grünen die Regierungsvorlage ablehnten, darunter Jürgen Trittin und Julia Verlinden. Eine weitere Grünen-Abgeordnete enthielt sich. Dies sollte wohl als Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der FDP verstanden werden, die zuletzt eine Laufzeitenverlängerung bis "mindestens 2024" verlangte und damit das Regierungsbündnis fast gesprengt hätte. Es war aber auch ein Signal an Bundeskanzler Scholz, die ihm zustehende Richtlinienkompetenz nicht ein weiteres Mal für Konzessionen an die FDP einzusetzen, wenn diese gegen den im November 2021 geschlossenen Koalitionsvertrag verstößt.
Die Unionsfraktion hatte alternativ einen Gesetzentwurf zur Abstimmung vorgelegt, der für alle drei Kernkraftwerke eine Laufzeitverlängerung "zumindest bis zum 31. Dezember 2024" forderte. Er enthielt also denselben Pferdefuß, mit dem die FDP fast den Bruch der Koalition herbeigeführt hätte, da eine solche Verlängerung die Bestückung aller drei Kernkraftwerke mit neuen Brennelementen voraussetzen und damit faktisch eine unbefristete Laufzeitenverlängerung implizieren würde.
Diese Problematik des Brennelementewechsels wurde in dem Unionsantrag mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen hieß es in der Begründung: "Diese akute Krisenmaßnahme ändert nichts an der grundsätzlichen Entscheidung zur Beendigung der friedlichen Nutzung der Kernenergie in Deutschland." – Anscheinend wollte sich die Union damit ein bißchen von den Kernkraft-Fanatikern der AfD distanzieren, die ihrem Antrag geschlossen zustimmten. Möglicherweise wollte sie damit zugleich FDP-Abgeordneten die Zustimmung erleichtern, deren Partei sich im Koalitionsvertrag zumindest formal zum Festhalten am Atomausstieg verpflichtet hat. Es blieb aber bei den insgesamt 242 Ja-Stimmen von Union und AfD sowie drei Fraktionslosen, denen 413 Nein-Stimmen von SPD, Grünen, FDP, Linken und einem Fraktionslosen gegenüberstanden. Die einfache Mehrheit hätte bei insgesamt 655 anwesenden Abgeordneten 328 Stimmen erfordert. Diese wäre indessen nur dann und ganz knapp zu erreichen gewesen, wenn sich alle 86 FDP-Abgeordneten der Phalanx aus Konservativen und Rechtsextremisten angeschlossen hätten. Das war nun aber wirklich (noch) nicht zu erwarten. Insofern blieb der Vorstoß der Union von vornherein ein reiner Schaufensterantrag, dessen Ablehnung vorherzusehen war. Einen Nutzen davon hatte nur die AfD, deren sehnlichster Wunsch, mit der Union gemeinsam auf der politischen Bühne agieren zu können, zumindest einen Moment lang in Erfüllung ging.
Wie aus der Begründung der nunmehr beschlossenen Atomgesetz-Novelle hervorgeht, werden die drei Reaktoren nicht einfach über das Jahresende hinaus weiter laufen und noch dreieinhalb Monate lang dieselbe Leistung erbringen können. Das liegt daran, dass ihre Brennelemente schon weitgehend erschöpft sind. Da sie von E.ON, EnBW und RWE mit Blick auf das ursprüngliche Stilllegungsdatum betrieben wurden, sinkt nun ihre elektrische Nennleistung rapide. Bei Neckarwestheim 2 und Emsland müssen deshalb die Brennelemente im Reaktorkern erst neu konfiguriert werden, damit sie bis zum 15. April noch jeweils etwa 1,7 Terawattstunden liefern können. Diese Prozedur dauert zwei bis drei Wochen. Bei Neckarwestheim 2 wird sie wahrscheinlich gleich zu Beginn des neuen Jahres stattfinden, bei Emsland Ende Januar.
Der Reaktor Isar 2 soll dagegen mit seinem bisherigen Reaktorkern noch bis Anfang März betrieben werden können und etwa 2 Terawattstunden erzeugen. Voraussetzung ist bzw. war hier jedoch die Beseitigung einer zu groß gewordenen "Druckhalterventilleckage". Gemeint ist damit eine Vorrichtung zur Entfernung von Wasserstoff und Sauerstoff aus dem Primärkreislauf des Druckwasserreaktors. Die beiden Gase entstehen in kleinen Mengen aus der Zerlegung des erhitzten und unter hohem Druck stehenden Kühlwassers. Sie sammeln sich im oberen Bereich des Druckhalters oder an anderen Hochpunkten von nicht durchströmten Leitungen. Da die Mischung beider Gase bekanntlich Knallgas ergibt, müssen sie durch eine dort eingebaute Ventilleckage abgesaugt werden. Diese gewollte "Druckhalterventilleckage" nimmt aber mit der Betriebsdauer zu, obwohl sie nur innerhalb bestimmter Grenzen zulässig ist. Sie muss deshalb regelmäßig kontrolliert und neu eingestellt werden.
Im Fall von Isar 2 scheint E.ON diese aufwendige Wartung mit Blick auf die zum Jahresende geplante Stilllegung zunächst nicht mehr für notwendig gehalten zu haben. Das war allerdings schon hart auf Kante genäht. Als die CSU ihre Kampagne für eine Laufzeitenverlängerung begann, ergab sich deshalb eine neue Situation. Anscheinend wurden auch die beiden Parteivorsitzenden Markus Söder (CSU) und Friedrich Merz (CDU) nicht von dem sich anbahnenden Risiko informiert, als sie am 4. August dem Kernkraftwerk ihre Aufwartung machten und seinen Weiterbetrieb verlangten (oder sie haben es verschwiegen). Publik gemacht wurde das Problem erst durch das Bundesumweltministerium, nachdem es mit der technisch zuständigen E.ON-Tochter Preussenelektra die Pläne für eine Laufzeitenverlängerung besprochen hatte (220906). Die Preussenelektra gab sich daraufhin alle Mühe, den Begriff "Druckhalterventilleckage" auf ihrer Internet-Seite so zu erläutern, dass er alle beängstigenden Assoziationen verlor: "Diese Leckagen sind normalbetrieblich vorhanden und innerhalb festgelegter Grenzen zulässig", hieß es. "Zur Absicherung eines Weiterbetriebs" müssten nun allerdings die Drosseln und Ventile des Druckhalters "vorbeugend revidiert" werden.
Diese "vorbeugende Revidierung" setzt indessen voraus, dass der Reaktor völlig abgeschaltet und drucklos gemacht wird. Ein Wiederanfahren war aber wegen der sinkenden Reaktivität des Reaktorkerns nur noch innerhalb eines knappen Zeitfensters möglich. Mit großer Erleichterung begrüßte deshalb der Preussenelektra-Chef Guido Knott am 18. Oktober die Entscheidung des Bundeskanzlers, alle drei Kernkraftwerke bis zum 15. April am Netz zu belassen. "Wir erwarten jetzt eine zügige gesetzliche Umsetzung und werden unsere Vorbereitungen auf einen Weiterbetrieb fortsetzen", kündigte er an. "Für Isar 2 bedeutet dies, dass wir die Anlage Ende dieser Woche herunterfahren, um die notwendige Wartung an den Druckhalterventilen durchzuführen."
Tatsächlich ging Isar 2 schon am 21. Oktober vom Netz und stand neun Tage still, bis die "routinemäßige Wartung der Druckhaltevorsteuerventile" beendet war, wie Preussenelektra den Vorgang umschrieb. Dabei war diese aufwendige "Wartung" ursprünglich gar nicht beabsichtigt gewesen und erfolgte nun – gar nicht routinemäßig – unter großem Zeitdruck.
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