September 2022

220906

ENERGIE-CHRONIK


Zwei der drei letzten Reaktoren sollen noch bis April laufen können

Für die drei letzten deutschen Kernkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 erlischt zum Jahresende die Berechtigung zum Leistungsbetrieb, wie dies seit elf Jahren durch § 7 Abs. 1a des Atomgesetzes vorgeschrieben wird. Zugleich wird aber für Isar 2 und Neckarwestheim 2 eine Ausnahmeregelung getroffen, die es erlaubt, sie auch nach diesem Termin noch als "Ersatzreserve" vorzuhalten. Die beiden Kernkraftwerke können so bis längstens Mitte April 2023 weiter betrieben oder erneut angefahren werden, falls es notwendig sein sollte. Diese Entscheidung gab Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am 5. September bekannt. Zuvor hatten die vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber im Auftrag des Ministeriums in einem zweiten "Netzstresstest" den Stand der Versorgungssicherheit geprüft und unter anderem untersucht, wieweit der russische Überfall auf die Ukraine und andere energiepolitische Unsicherheitsfaktoren eine Verlängerung der Laufzeiten für die drei letzten Reaktoren ratsam machen könnten.

Aus der "Ersatzreserve" wurde drei Wochen später eine "Einsatzreserve"

Nach dieser Ankündigung gab es jedoch Unklarheiten und Mißverständnisse, wie die Regelung zu interpretieren und umzusetzen sei. Als Ergebnis einer wochenlangen politischen Auseinandersetzung legte Habeck am 27. September ein mit den beiden KKW-Betreibern E.ON und EnBW vereinbartes Eckpunktepapier vor, in dem aus der "Ersatzreserve" eine "Einsatzreserve" wird. "Die Einsatzreserve bedeutet, dass die Betreiber der beiden Atomkraftwerke ab sofort alles Erforderliche in die Wege leiten, damit die Anlagen über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.04.2023 weiter im Markt betrieben werden können", heißt es in dem Eckpunktepapier. Die Bundesregierung werde dann "entlang der Grunddaten des 'Netzstresstests' entscheiden, ob der Betrieb einer oder beider Anlagen notwendig ist". Grundlage für die Entscheidung zum Weiterbetrieb sei "ein Monitoring, das die Verfügbarkeit der Atomkraftwerke in Frankreich, den Umfang der an den Markt zurückgekehrten Kohlekraftwerke, die Verfügbarkeit der Gas- und Kohlekraftwerke (technische Verfügbarkeit, Brennstoffversorgung) sowie die erwartete Entwicklung des Stromverbrauchs berücksichtigt".

KKW-Betreiber brauchen Gewinne nicht mit bereits erhaltenen Abfindungen verrechnen

Damit scheint ziemlich sicher zu sein, dass zumindest Isar 2 im "Streckbetrieb" bis April am Netz bleiben wird. Die vier Übertragungsnetzbetreiber haben in ihrem sogenannten Stresstest, auf den das Papier als Entscheidungshilfe verweist, sogar den Weiterbetrieb aller drei Kernkraftwerke bis zum Frühjahr bzw. bis zur Erschöpfung der Brennelemente empfohlen. Laut dem Eckpunktepapier wird die Bundesregierung eine Änderung des Atomgesetzes vorschlagen, die das Ende des Leistungsbetriebs ohne Berücksichtigung von Reststrommengenkontingenten ins Jahr 2023 verschiebt. Die Periodische Sicherheitsüberprüfung wird ebenfalls aufgeschoben. "Auch Nachforderungen nach dem EntsorgungsFondsG oder Änderungen an der 18. Novelle des Atomgesetzes sowie der dazu beschlossenen öffentlich-rechtlichen Verträge wird es nicht geben", heißt es. Die KKW-Betreiber werden also die mit der zusätzlichen Stromerzeugung erzielten Gewinne nicht mit Abfindungen verrechnen müssen, die ihnen bereits dafür gezahlt wurden, dass sie nach Jahresende 2022 keine Gelegenheit mehr zur Abarbeitung von noch unverbrauchten Reststrommengen nach dem Atomgesetz haben würden (210601).

Das ursprüngliche Konzept war vor allem ein Kompromiss zwischen Grünen und FDP

Der ursprünglich von Habeck vorgelegt Plan sah etwas anders aus. Er war offenkundig ein Kompromiss zwischen Positionen der Regierungsparteien Grüne/SPD einerseits und der FDP andererseits. Die Mehrheit der Grünen wollte am Abschalttermin 31. Dezember 2022 für die drei letzten Kernkraftwerke nicht rütteln lassen – vor allem deshalb, weil sie hinter der Forderung nach einem "Streckbetrieb" weitergehende politische Bestrebungen in Richtung einer Wiederbelebung der Kernenergie witterte. Und dazu gab es auch allen Anlass, da seit gut einem Jahr einflußreiche Kreise von Politik, Wirtschaft und Medien die Forderung nach längeren Laufzeiten für die letzten Kernkraftwerke vor allem deshalb unterstützen, um eine generelle Neubelebung dieser höchst gefährlichen und teuren Technologie zum Betrieb von Dampfkraftwerken zu erreichen (siehe Hintergrund, Juni 2022).

Innerhalb der Regierung unterstützt die FDP die Forderungen nach einer Verlängerung der Laufzeiten für die drei letzten Kernkraftwerke sowie ziemlich unverhohlen auch weitergehende Bestrebungen, soweit ihr dies im Rahmen des Koalitionsvertrags möglich ist, in dem es heißt: "Wir halten am Ausstieg aus der Kernenergie fest. Spätestens 2022 wird das letzte Kernkraftwerk in Deutschland abgeschaltet". Teilweise bewegt sich der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner aber schon deutlich weg von dieser Vereinbarung, wenn er es nicht nur bei einem "Streckbetrieb" bis zum Frühjahr belassen will, sondern bereits längere Laufzeiten ins Auge fasst, was die Neubestückung der Anlagen mit Brennelementen voraussetzen würde.

Eine "Ersatzreserve" gab es im Vokabular der Netztechnik nicht

Lindners grüner Ministerkollege Habeck glaubte zunächst, eine beide Seiten befriedigende Lösung gefunden zu haben, indem er die zwei süddeutschen Kernkraftwerke – von denen noch am ehesten ein sinnvoller Beitrag zur Stromerzeugung zu erwarten wäre – der "Ersatzreserve" zuordnete. Dieser Begriff entstammt nicht etwa dem Vokabular der Netztechnik, sondern dem militärischen Sprachgebrauch. Wer ein bißchen älter ist und als Wehrpflichtiger für die Bundeswehr gemustert wurde, erinnert sich wahrscheinlich noch: Durch einen Stempel im Wehrpass wurde er der "Ersatzreserve" zugewiesen, solange er den Grundwehrdienst nicht abgeleistet hatte. Häufig blieb es dabei ein Leben lang, weil die Bundeswehr soviele Rekruten gar nicht benötigte. Der neubelebte Begriff passte deshalb ganz gut zur ursprünglichen Absicht Habecks, alle drei Kernkraftwerke wie vorgesehen abzuschalten, aber Isar 2 und Neckarwestheim 2 als "Ersatzreserve" nur für den Fall bereitzuhalten, dass sich für einen Weiterbetrieb bzw. eine Wiederinbetriebnahme der Reaktoren ein dringlicher Bedarf ergeben sollte. Ob die KKW dann tatsächlich gebraucht würden, sollte laut Habeck jeweils einmalig im Dezember, Januar oder Februar entschieden werden.

Habeck fühlte sich von E.ON mißverstanden

Diese Lösung schien politischen Charme zu haben, war aber nicht gerade praxisgerecht: Ein erneutes Hochfahren der Anlagen hätte erst mal eine Woche gedauert, und durch die "Ersatzreserve" würden kaum geringere Kosten als beim regulären Betrieb anfallen, ohne dass ein Nutzen in Form von Strom entsteht. Die EON-Tochter Preussenelektra, die Isar 2 betreibt, scheint außerdem Habecks Plan so verstanden zu haben, dass sie das Kernkraftwerk wiederholt an- und abfahren müsse. In einem Schreiben an das Ministerium bezeichnete sie den Plan als "technisch nicht machbar" und als "ungeeignet, um den Versorgungsbeitrag der Anlagen abzusichern". Bereits am 25. August habe man das Ministerium darüber unterrichtet, dass in einem KKW-Streckbetrieb ein "flexibles Anheben oder Drosseln der Leistung nicht mehr möglich" sei. Diese Aussage verwundere ihn, sagte Habeck dazu am 7. September in einer Sitzung des Bundestagsausschusses für Klimaschutz und Energie. Das habe er von EON auch schon anders gehört. Zudem sehe sein Konzept kein wiederholtes Hoch- und Herunterfahren der Anlagen vor. Geplant sei vielmehr eine einmalige Entscheidung, sobald sich ein entsprechender Bedarf abzeichnet. Kurzum: "EON hat offenbar nicht verstanden, was der Vorschlag war."

Ausgerechnet die Erfinder der Schlusstermine verlangten eine Verlängerung der Laufzeiten

Die Forderung nach einem Weiterbetrieb der drei letzten Kernkraftwerke wurde zunächst nur von unentwegten Kernenergie-Fans und der rechtsextremen AfD erhoben, die sowieso den Neubau von Kernkraftwerken verlangte. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde dann aber die Ansicht recht populär, dass sie einen effizienten Beitrag zur Milderung der entstandenen Energiekrise leisten könnten. Schon aus diesem Grund fand die Forderung auch bei Politikern von Union und FDP Unterstützung, obwohl diese Parteien die strikten Schlusstermine einst dem Atomgesetz eingefügt hatten – unnötigerweise und sogar kontraproduktiv, weil dadurch der im Jahr 2000 vereinbarte Reststrommengen-Mechanismus nur gestört und der Ausstieg aus der Kernenergie verzögert wurde (siehe Hintergrund, März 2021).

Übertragungsnetzbetreiber erarbeiteten zwei "Stresstests"

Einen ersten Prüfbericht zu dieser Frage hatten die beiden Ministerien für Wirtschaft und Umwelt schon am 8. März vorgelegt. Dabei waren sie zu dem Schluss gelangt, dass der Weiterbetrieb der Kernkraftwerke keinen relevanten Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten würde, weil die hohe Abhängigkeit von Gas aus Russland vor allem im Bereich der Wärmeerzeugung und der Industrie besteht (220312). Außerdem erstellten die vier Übertragungsnetzbetreiber im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums eine "Sonderanalyse Winter 2022/23", die sie am 13. Juli vorlegten. Die am 5. und 27. September bekanntgegebenen Entscheidungen des Ministeriums bezogen sich beide auf eine von Mitte Juli bis Anfang September aktualisierte Fassung dieses ersten "Stresstests", die am 13. September als "Abschlussbericht Sonderanalysen Winter 2022/23" in der 64 Seiten umfassenden Langfassung veröffentlicht wurde (PDF). Die erste entsprach aber den Empfehlungen der Netzbetreiber weniger als die revidierte Variante.

Drei Szenarios mit mehr oder weniger ungünstigen Voraussetzungen

Auch der zweite "Stresstest" fand natürlich nur virtuell statt: Anhand von drei unterschiedlichen Szenarien wurde rechnerisch untersucht, wieweit die deutsche Stromversorgung unter mehr oder weniger ungünstigen Umständen auch im kommenden Winter als gesichert gelten kann. Dabei musste vor allem geprüft werden, ob der voraussichtliche Strombedarf durch Kraftwerkskapazitäten gedeckt wird und wieweit die netztechnischen Voraussetzungen gegeben sind, damit der Strom vom Kraftwerk tatsächlich zum Verbraucher gelangen kann. Unter anderem lagen den drei Szenarien folgende Annahmen zugrunde:

In allen Fällen wäre die Situation "äußerst angespannt"

Zusammenfassend stellten die Übertragungsnetzbetreiber fest, dass in allen drei Szenarien die Versorgungsituation im kommenden Winterhalbjahr "äußerst angespannt" sein werde. Der europäische Strommarkt werde den zu erwartenden Verbrauch nicht vollständig decken können. In den beiden kritischeren Szenarien würden "in einigen Stunden Lastunterdeckungen auch in Deutschland auftreten". Die inländischen Redispatch-Potenziale seien in keinem der drei Szenarien ausreichend. Für das Management von Netzengpässen seien mindestens 5,8 GW gesichertes Potenzial im Ausland nötig. Davon würden 1,6 GW durch die Redispatch-Kooperation mit Österreich vorgehalten. Über weitere 1,6 GW werde derzeit verhandelt.

Die Netzbetreiber empfehlen dringend die Nutzung aller Möglichkeiten zur Erhöhung der Erzeugungs- und Transportkapazitäten. Dabei sei auch die Verfügbarkeit der drei letzten deutschern Kernkraftwerke "ein weiterer Baustein zur Beherrschung kritischer Situationen". Durch einen "Streckbetrieb", der die in den Brennelementen noch vorhandenre Restenergie verwertet, könnten die drei Reaktoren von Januar bis März 2023 bis zu 3 Gigawatt an gesicherter Leistung und noch rund 5 Terawattstunden zusätzlich an Strom liefern, argumentierten sie. Dadurch könnten bei der Stromerzeugung mit Gas im Inland 0,9 TWh und im europäischen Ausland 1,5 TWh eingespart werden. Zugleich räumten sie aber ein, dass dadurch der Bedarf an ausländischem Redispatch, den sie mit 5,1 Gigawatt veranschlagten, nur um 0,5 Gigawatt geringer werde.

"Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie"

Insgesamt ergäbe demnach ein dreimonatiger Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke gewisse Vorteile, die zwar die "äußerst angespannte Lage" nicht grundlegend ändern, aber doch mildern könnten. Habeck hatte allerdings eine politische Entscheidung zu treffen, bei der diese eher bescheidenen Vorteile mit Nachteilen zu verrechnen waren, über die sich die Netzbetreiber keine Gedanken zu machen brauchen. Vor allem kann er als Spitzenpolitiker einer Partei, die ihren Erfolg wesentlich dem Kampf gegen die Kernenergie verdankt, nicht einfach die nuklearen Risiken ausblenden. "Die Atomkraft ist und bleibt eine Hochrisikotechnologie und die hochradioaktiven Abfälle belasten zig nachfolgende Generationen", unterstrich er deshalb. "Mit der Atomkraft ist nicht zu spielen. Eine pauschale Laufzeitverlängerung wäre daher auch im Hinblick auf den Sicherheitszustand der Atomkraftwerke nicht vertretbar."

Bei Isar 2 muss dringend ein Ventilproblem behoben werden

Wie zur Bestätigung dieser Warnung stellte sich Ende September heraus, dass im KKW Isar 2 ein Ventilproblem behoben werden muss, bevor der Reaktor länger laufen darf. E.ON-Preussenelektra teilte diesen Defekt erst in einem Fachgespräch mit, bei dem das Bundesumweltministerium als zuständige Behörde für die nukleare Sicherheit die Voraussetzungen für den Weiterbetrieb prüfen wollte. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) erlaubte sich daraufhin die maliziöse Frage, weshalb der bayerische Ministerpräsident Markus Söder und CDU-Chef Friedrich Merz über dieses Problem nicht informiert wurden, als sie am 4. August demonstrativ das Kernkraftwerk besichtigten, um anschließend dessen Laufzeitverlängerung zu fordern.

Und dabei blieb es nicht: Schon drei Tage später berichtete die Anti-Atomkraft-Organisation "ausgestrahlt" am 21. September unter Berufung auf Angaben des Bundesumweltministeriums über eine weitere Vermehrung der Risse am Primärkreislauf des Reaktors Neckarwestheim. Von rund 350 Rissen an den von radioaktivem Wasser durchströmten Rohren des Dampferzeugers seien 36 neu hinzugekommen.

 

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