August 2020

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Pannen, Verzögerungen und Kosten ohne Ende: Das Milliardengrab EPR

(zu 200806)

Mit ungewöhnlicher Offenheit hat jetzt der französische Rechnungshof "Cours des Comptes" das Scheitern eines Projekts dargelegt, das vor drei Jahrzehnten von der deutschen und französischen Nuklearbranche gemeinsam eingefädelt wurde: Der "European Pressurized Reactor" (EPR) sollte der Kernenergie zu neuem Glanz verhelfen, nachdem 1986 das sowjetische Kernkraftwerk Tschernobyl explodiert war und den Globus mit radioaktiven Niederschlägen verseucht hatte. Er sollte eine Kernschmelze wie in Tschernobyl beherrschbarer machen und die Auswirkungen möglichst auf das Kernkraftwerk beschränken. Er sollte vor allem in Deutschland das Image dieser Energiequelle aufpolieren, die arg in Mißkredit geraten war und zunehmend an politischer Unterstützung verlor. Der Siemens-Vorstand Adolf Hüttl schwadronierte sogar von "inhärenter Sicherheit", die der neue Reaktortyp bieten würde. Das stimmte zwar nicht, klang aber fachmännisch und deshalb überzeugender, als wenn er platterdings ein Rundum-Sorglos-Paket versprochen hätte (920103).

Siemens orientierte sich am "Konvoi"-Reaktor und Framatome an der Baureihe N4

Zur praktischen Umsetzung des Projekts gründeten Siemens und Framatome 1989 das Gemeinschaftsunternehmen Nuclear Power International (NPI), das dann im November 1995 ein erstes Konzept für den "European Pressurized Reactor" (EPR) mit einer elektrischen Leistung von 1500 Megawatt vorlegte (951115). Es enthielt verbesserte Sicherheitsvorkehrungen, aber nichts grundlegend neues. Es knüpfte vielmehr an die konventionellen Druckwasserreaktoren an, wie sie zuletzt in den achtziger Jahren von Siemens und Framatome mit einer elektrischen Nennleistung von bis zu 1500 MW gebaut wurden. In Deutschland waren das die drei sogenannten Konvoi-Reaktoren (Isar 2, Emsland, Neckarwestheim 2) und in Frankreich die vier Anlagen der Baureihe N4 an den Standorten Chooz und Civaux. Sowohl Siemens als auch Framatome stützten sich dabei auf den von der US-Firma Westinghouse lizenzierten Leichtwasser-Reaktor, den sie im Laufe der Jahre modifizierten und ihren jeweiligen Bedürfnissen anpassten. In dieser Diversität sieht der erwähnte Bericht des Rechnungshofs die früheste Ursache der Probleme, die dann im neuen Jahrtausend zu den immensen Verzögerungen und Kostenexplosionen bei der erstmaligen Umsetzung des EPR-Konzepts führten. Es wären demnach nicht die häufig unterschätzten sprachlichen Probleme gewesen, was Planer und Ingenieure beider Seiten nicht so recht zueinander finden ließ, sondern das fachliche Unvermögen, die Reaktortypen Konvoi und N4 mit den hinzugefügten sicherheitstechnischen Verbesserungen in einem neuen Konzept zu verschmelzen.

Neubau von Kernkraftwerken in Deutschland sollte wieder in Gang gebracht werden

Man muss bei dieser nachträglichen Kritik allerdings berücksichtigen, das das Gemeinschaftsprojekt vor allem einem dringenden Bedürfnis der deutschen Atombranche entsprach. Hauptakteure waren hier die Stromkonzerne PreussenElektra, Bayernwerk, RWE und EnBW, die das Projekt finanzierten, sowie der Siemens-Konzern, der als Hoflieferant für Nukleartechnik die technische Umsetzung besorgte. Diese und andere Akteure der Nuklearbranche wollten die Gunst der Stunde nutzen, um mit politischer Unterstützung durch Union und FDP den Neubau von Kernkraftwerken im nunmehr wiedervereinigten Deutschland durchzusetzen. In der alten Bundesrepublik war das bis dahin nicht möglich. Schon seit 1982 hatte es keine neuen Aufträge für Reaktoren mehr gegeben. Das Kernkraftwerk Neckarwestheim 2 war und blieb der letzte Neubau, nachdem es im April 1989 den Leistungsbetrieb aufgenommen hatte. Alle weiteren Projekte wie das Kernkraftwerk Neupotz in Rheinland-Pfalz, dessen Bau RWE schon seit 1975 betrieb, gediehen nicht über die Planungsphase hinaus.

In Frankreich wurden seit den siebziger Jahren 58 Druckwasserreaktoren errichtet

Auf französischer Seite, wo neben Framatome die Electricité de France (EDF) einbezogen war, gab es solche Probleme nicht. Hier erfreute sich die Kernenergie fast ungeteilter Zustimmung. Das lag auch an ihrer Verflechtung mit der "Force de frappe". Sie wurde als notwendiger Betätigungsbereich des Staats gesehen, um die allgemeine Stromversorgung und die Rolle einer Atommacht zu sichern. Ihre zivile Nutzung wurde durch das Staatsunternehmen EDF repräsentiert. Da das Land kaum über Kohle verfügte, schossen die Kernkraftwerke zeitweilig wie Pilze aus dem Boden. So gingen allein 1981 acht Reaktoren neu ans Netz. Insgesamt wurden seit den siebziger Jahren 58 Druckwasserreaktoren errichtet. Die 34 ältesten verfügten über eine Leistung von jeweils etwa 900 MW, gefolgt von 20 Reaktoren im Bereich von 1300 MW und den vier neuesten mit jeweils rund 1500 MW. Die französische Stromerzeugung beruhte deshalb zu Beginn des neuen Jahrtausends zu 78 Prozent auf Kernenergie, während es in Deutschland höchstens dreißig Prozent waren.

Wegen Überkapazitäten hatte die EDF zunächst gar keinen Bedarf für den EPR

Dass in Frankreich keine neuen Reaktoren mehr in Betrieb genommen wurden, nachdem 1999 der Reaktor Civaux 2 ans Netz ging, hatte ganz andere Gründe als in Deutschland. Zunächst lag dies einfach daran, dass kein Bedarf bestand, denn die EDF hatte die künftige Stromnachfrage überschätzt und litt deshalb unter Überkapazitäten. So sieht das auch der Rechnungshof in seinem Bericht: "Das Ausmaß der in dieser Periode installierten Kapazitäten sowie die Überschätzung des Strombedarfs bei einem unter den Erwartungen liegenden Wachstum der französischen Wirtschaft erklären die Verlangsamung und schließlich den Stopp neuer Anlagen zu Beginn der 2000er-Jahre."

Entsprechend gering war das Interesse der EDF, den gemeinsam mit der deutschen Nuklearwirtschaft konzipierten EPR erst mal im eigenen Land zu bauen, solange dies in Deutschland nicht möglich war. Dies änderte sich erst mit der Gründung des exportorientierten Nuklearunternehmens Areva, das Ende 2003 den Auftrag für die Errichtung des ersten EPR in Finnland erhielt (031205). Außerdem beschloss die französischen Regierung im Mai 2004, den französischen KKW-Bestand auf Basis des EPR bis 2020 zu erneuern (040503). Daraufhin kündigte die EDF bis 2007 den Baubeginn für den ersten inländischen EPR am Standort Flamaville an (041006). Fertiggestellt wurde bisher jedoch keines dieser Projekte. Und auch sonst geriet die Verwirklichung des EPR-Konzepts zu einem Alptraum aus horrenden Verzögerungen und Kostenexplosionen.

Zusammenbruch der DDR verzögerte deutschen Atomausstieg um zwei Legislaturperioden

Dagegen hätten in Deutschland die Stromkonzerne liebend gern noch weitere Kernkraftwerke gebaut, wurden aber durch die öffentliche Meinung, gerichtliche Entscheidungen, Demonstrationen und äußerstenfalls Bauplatzbesetzungen daran gehindert. Seit Tschernobyl mussten sie sogar die vorzeitige Stilllegung der bisher gebauten Reaktoren befürchten. Bei den Bundestagswahlen 1987 zogen die grünen Kernkraftgegner zum zweiten Mal in den Bundestag ein. In der SPD häuften sich ebenfalls Stimmen, die den Ausstieg aus der Kernenergie verlangten. Für die nächste Bundestagswahl im Jahre 1991 wurde bereits überwiegend mit der Abwahl der schwarz-gelben Regierung von Helmut Kohl gerechnet.

Dass es dann doch anders kam, lag am völlig unerwarteten Zusammenbruch der DDR: Im Taumel der Begeisterung über die Wiedervereinigung wurden die ersten gesamtdeutschen Wahlen im Dezember 1990 zu einem großen Erfolg für Union und FDP, während SPD und Grüne empfindliche Einbußen erlitten. Die folgenden Bundestagswahlen im Oktober 1994 bescherten Schwarz-Gelb aber nur noch einen knappen Vorsprung. Weitere vier Jahre später verhalf das Wahlergebnis vom September 1998 der neu gebildeten Koalition aus SPD und Grünen zu einer satten Mehrheit, und Ende 2001 beschloss der Bundestag das "Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie" (011204).

"Standortunabhängiges Prüfverfahren" sollte EPR zu größerer Akzeptanz verhelfen

Damit hatte sich der Hauptzweck des EPR erledigt, der darin bestand, in Deutschland den Neubau von Kernkraftwerken wieder in Gang zu bringen. Trotz der bis 1998 andauernden schwarz-gelben Regierung war dies in dem knappen Jahrzehnt seit dem Start des Projekts nicht gelungen. Sowohl die KKW-Betreiber als auch die Regierung hatten Angst vor neuen Massendemonstrationen wie in Brokdorf oder Wyhl, falls es zu Genehmigungsverfahren für konkrete Standorte kommen würde. Auf Wunsch der KKW-Betreiber erweiterte die schwarz-gelbe Koalition deshalb 1997 das Atomgesetz um ein "standortunabhängiges Prüfverfahren" für neu zu errichtende Kernkraftwerke. Dieses Prüfverfahren durch eine Bundesbehörde sollte dem EPR vorab zu größerer Akzeptanz oder zumindest amtlicher Anerkennung verhelfen (971103). Es hätte freilich nicht das eigentliche Genehmigungsverfahren ersetzt, für das weiterhin die Landesbehörden zuständig blieben. Nach den Wahlen wurde es bald wieder aus dem Atomgesetz getilgt (020404).

Wegen des Atomausstiegs überließ Siemens sein gesamtes Nukleargeschäft den Franzosen

Der Siemens-Konzern zog aus der neuen politischen Konstellation die Konsequenzen, indem er sein Nukleargeschäft mit dem des französischen Reaktorbauers Framatome zusammenlegte und sich mit 34 Prozent an dessen Kapital beteiligte (010215). So wurde aus dem EPR, der ursprünglich den Nöten der deutschen Nuklearbranche abhelfen sollte, ein überwiegend französisches Projekt. Die EU-Kommission genehmigte den Handel mit der Auflage, dass sich die Electricité de France (EDF) und der ebenfalls staatliche Brennelemente-Hersteller Cogema aus Framatome zurückzogen. Sie gab damit den Anstoß zu einer Neuordnung des Nuklearsektors, aus der im September 2001 die Kerntechnik-Holding Areva hervorging, die sowohl die Framatome ANP als auch die Cogema umfasste (010916).

Areva entdeckte den EPR als Exportschlager und wurde zum Konkurrenten der EDF

Die neue Nuklearholding Areva, die über die Framatome den EPR in ihrem Portefeuille hatte und mit Siemens einen deutschen Minderheitsaktionär besaß, trat nun zunehmend in ein Konkurrenzverhältnis zum Platzhirsch EDF, indem sie den bisher eher stiefmütterlich behandelten EPR zu einem Exportschlager zu machen versuchte. "Dieser Wettlauf zwischen den beiden französischen Unternehmen führte dazu, dass die Baustellen der beiden ersten EPR aufgrund fehlerhafter technischer Referenzen und unzureichender Detailstudien überstützt in Angriff genommen wurden", heisst es im Bericht des Rechnungshofs. Die mangelnde Vorbereitung habe auch dazu geführt, dass die Schwierigkeiten beim Bau des EPR unterschätzt wurden. Die Atomindustrie habe sich einfach zuviel zugetraut, nachdem es ihr gelungen war, einen Kraftwerkspark mit 58 Reaktoren erfolgreich zu errichten und zu betreiben.

Präsident Sarkozy machte höchstpersönlich den obersten Verkäufer

Zur Ankurbelung des Nuklearexports gründete die Regierung im Mai 2008 sogar eine eigene Agentur, die dem staatlichen Atomenergie-Kommissariat (CEA) angegliedert wurde (080508). In die Rolle des obersten Verkäufers schlüpfte der französische Präsident Sarkozy höchstpersönlich, indem er bei seinen Staatsbesuchen regelmäßig den EPR im Gepäck hatte und als schlüsselfertiges Angebot zur Stromversorgung offerierte. Dabei war er gern bereit, solche Aufträge mit kleineren Gegenleistungen zu honorieren. Zum Beispiel erfreute er die Machthaber in Peking damit, dass er deren Menschenrechtsverletzungen nicht ansprach und einen großen Bogen um den Dalai Lama machte (080808). Dem lybischen Tyrannen Gaddafi bescheinigte er großzügig, dass dieser die französische Nukleartechnologie schon nicht mißbrauchen werde, um nach Atomwaffen zu streben (070702). Zu diesem legeren Umgang mit atomaren Risiken passt auch, dass er bei einem Besuch in Deutschland der Bundeskanzlerin beim Mittagessen beiläufig ein Mitspracherecht beim Einsatz der "Force de Frappe" angeboten haben soll (070912).

Schon die erste EPR-Baustelle in Finnland wurde bis heute nicht fertig

Letztendlich blieb der Erfolg dieser präsidialen Bemühungen aber doch recht bescheiden. Nachträglich stellte sich das als Glücksfall heraus, da die mühsam errungenen Exportaufträge meistens zu technisch-wirtschaftlichen Debakeln wurden, was die Gewinnung neuer Interessenten dann noch schwieriger machte. Das fing schon mit dem ersten EPR an, den Areva Ende 2003 dem finnischen Stromversorger TVO verkaufen konnte und der bis 2009 am Standort Olkiluoto errichtet werden sollte (031205). Schon kurz nach dem 2005 erfolgten Baubeginn veröffentlichte die finnische Reaktorbehörde einen Bericht, wonach es infolge unterschätzter Planungsfristen, unerfahrener Subunternehmer und Verständigungsschwierigkeiten zu erheblichen Mängeln bei der Bauausführung kam (061007). Und das war nur der Anfang einer nicht abreißenden Serie von Pannen und Verzögerungen, für die sich der finnische Stromversorger und Areva wechseiltig die Schuld gaben und auf Schadenersatz verklagten (090909). Alle zwei Jahre wurde die Inbetriebnahme auf ein späteres Datum verschoben. Im März 2018 einigten sich die Beteiligten schließlich auf eine Entschädigung von maximal 400 Millionen Euro, falls das Kernkraftwerk bis Ende 2019 nicht fertig sein sollte. Die Finnen bezifferten die ihnen entstandenden Kosten inzwischen mit 5,5 Milliarden Euro. Hinzu kamen die hohen Verluste der Lieferanten, die kaum geringer sein dürften. Insgesamt ist der Reaktor in Olkiluoto deshalb für alle Beteiligten ein gigantisches Verlustgeschäft und wird wahrscheinlich mehr als dreimal soviel kosten wie einst geplant war (180309). Fertig ist er bis heute nicht.

Auf der zweiten EPR-Baustelle in Flamanville ging es ebenfalls nicht voran

Noch peinlicher wurde alles, als die EDF 2007 mit dem Bau des ersten EPR am Standort Flamanville begann und sich herausstellte, dass es auch unter ihrer Regie und im eigenen Land nicht klappte. Eigentlich sollte Flamanville der erste von insgesamt 19 EPR sein, die bis 2020 ältere Druckwasserreaktoren ersetzen (041006). Aber bis heute wurde dieses Projekt nicht fertig. Zum Bau eines weiteren EPR, der ab 2012 am Standort Penly entstehen sollte (090105), kam es deshalb erst gar nicht. Nach Festsstellung des Rechnungshofs hatte die EDF die Bauzeit mit 54 Monaten von vornherein viel zu niedrig angesetzt.

EDF begann in England ein weiteres ruinöses Abenteuer

Nach dem Baubeginn in Flamanville gelang es der EDF im September 2008, den britischen Atomstromproduzenten British Energy (BE) mit 15 Reaktoren an sieben Standorten zu übernehmen. Sie besaß damit praktisch alle britischen Kernkraftwerke mit Ausnahme der vier ältesten Reaktoren, deren Abschaltung bevorstand und die wegen ihres maroden Zustands der staatlichen BNFL übertragen wurden. Die für 16 Milliarden Euro gekauften Reaktoren waren ebenfalls ziemlich alt und störanfällig. Sie sollten deshalb nach und nach durch neue und leistungsstärkere Reaktoren vom Typ EPR ersetzt werden. Der erste sollte bis Ende 2012 in Angriff genommen werden und bis 2017 ans Netz gehen (080903).

Bei der EDF sass das Geld aber nicht mehr so locker. Das Fiasko in Finnland dauerte an, und in Frankreich ging es ebenfalls nicht so voran, wie man sich das vorgestellt hatte: In Flamanville waren die Baukosten von 3,3 auf 8,5 Milliarden Euro explodiert. Der italienische Energiekonzern Enel nahm dies zum Anlass, um die 2007 beschlossene Beteiligung an der französischen Atomstromerzeugung (071207) nach fünf Jahren wieder aufzukündigen (130207). Hinzu wurde immer klarer, dass die Atomstromerzeugung in England nicht rentabel sein würde.

Britische Regierung garantierte Strompreis in doppelter Höhe des Marktwerts

Zu konkreteren Neubauplänen kam es deshalb erst, nachdem die britische Regierung einen Garantiepreis für die Abnahme des Stroms versprochen hatte. Mit 92 Pfund pro Megawattstunde war er etwa doppelt so hoch wie der aktuelle Großhandelspreis. Er galt für 35 Jahre und wurde entsprechend der Geldentwertung erhöht (131009). Im Oktober 2014 genehmigte die EU-Kommission diese verschwenderische Alimentierung eines Staatsunternehmens durch einen anderen Staat der Union (141020). Trotzdem dauerte es noch bis Juli 2016, bevor die EDF tatsächlich die Investitionsentscheidung für die Errichtung von zwei EPR am Standort Hinkley Point traf. Zuvor hatten der französische Präsident Hollande und sein Wirtschaftsminister Macron grünes Licht gegeben, indem sie die hochverschuldete EDF mit fünf Milliarden Euro stützten (160405). Sie desavouierten damit den EDF-Finanzchef Thomas Piquemal, der seinen Rücktritt erklärt hatte, weil er den Reaktor-Neubau in England nicht länger verantworten wollte (160314). Im Verwaltungsrat der EDF war die Investitionsentscheidung ebenfalls umstritten: Einer der Räte legte vor der Sitzung sein Amt unter Protest nieder. Die sechs Vertreter der Arbeitnehmerseite und ein weiteres Mitglied lehnten das Projekt ab, weil es zu große Risiken für die EDF berge, die bereits mit 37 Milliarden Euro verschuldet war (160714).

"Brexit" änderte nichts an getroffenen Vereinbarungen

Als Krönung des ganzen Schlamassels zögerte nun ausgerechnet die britische Regierung, der französischen Investitionsentscheidung zu applaudieren. Stattdessen machte die neue Premierministerin Theresa May das Vorhaben Hinkley Point von einer erneuten Überprüfung abhängig (160714). Es sah fast so aus, als ob die Nachfolgerin des unglückseligen David Cameron, der das knappe Referendum für den Austritt aus der EU verbockt hatte, die Briten nicht auch noch zusätzlich mit den Kosten einer exzessiven Atomstrom-Subventionierung belasten wollte. Bald wurde aber klar, dass es unter der neuen konservativen Chefin bei der alten Marschrichtung bleiben würde. Falls Theresa May tatsächlich vorübergehend von Skrupeln wegen der hohen Atomstrom-Subventionierung befallen worden sein sollte, hat sie dies hübsch kaschiert, indem sie nachträgliche Bedenken wegen der Einbeziehung der chinesischen Atomwirtschaft vorschützte. Die sollten nun publikumswirksam dadurch ausgeräumt werden, daß die britische Regierung ein Vetorecht gegen unerwünschte Eigentümerwechsel bei den neu zu bauenden Kernkraftwerken erhielt. Das klang gut, schmeichelte dem insularen Selbstbewußtsein, wurde von der EDF gern akzeptiert und tat auch den Chinesen nicht weh, zumal diese ohnehin seit acht Jahren mit der französischen Atomwirtschaft verbandelt waren und deshalb den EPR nicht erst auf britischem Boden auszuspähen brauchten (siehe Hintergrund, September 2016).

Siemens gab Framatome-Anteile zurück und vereinbarte neue Partnerschaft mit der russischen Atomindustrie

Unterdessen war der Siemens-Konzern, der den EPR maßgeblich entwickelt hatte, bevor er 2001 sein ganzes Kernenergiegeschäft der französischen Atomindustrie überließ, auch finanziell aus der Partnerschaft ausgestiegen. Der Hauptgrund war wohl die Unergiebigkeit seiner Minderheitsbeteiligung an der Framatome und der fehlende Einfluss auf die Geschäftspolitik der Holding Areva, die Verluste im KKW-Geschäft eher verschmerzen konnte, solange ihr die Cogema üppige Gewinne aus der Brennelemente-Fertigung und anderen Bereichen bescherte. Außerdem wollte der damalige Präsident Sarkozy einen neuen Konzern schmieden, der nukleare und fossile Kraftwerkstechnik vereint und dabei den Siemens-Konkurrenten Alsthom miteinbezogen hätte. Die ohnehin mageren Aufträge für Turbinen, Generatoren und andere konventionelle Kraftwerkstechnik, die für Siemens als Sozius der Framatome anfielen, wären damit noch mehr geschmälert worden. Zudem konnte der französische Partner – wie erst jetzt bekannt wurde – Siemens einfach vor die Tür setzen, weil er sich bei der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens die Option einräumen ließ, den Siemens-Anteil frühestens 2009 und spätestens 2011 zu übernehmen (070703).

Es gab Gespräche auf höchster politischer Ebene, ob und wie der sich anbahnende Bruch vermieden werden könnte. "Von meiner Seite ist deutlich gemacht worden: Wir würden es gerne sehen, wenn die Kooperation von Siemens und französischen Unternehmen – also Areva – auch fortgeführt werden könnte", sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2007 nach einem Treffen mit Sarkozy (070912). Im Januar 2009 beendete Siemens die Hängepartie mit der überraschenden Entscheidung, die 34-prozentige Beteiligung an der Areva NP aufzugeben, wie die Framatome inzwischen hieß. Der Konzern wollte sich aber keineswegs aus dem Bereich Kernenergie ganz zurückziehen, sondern erwog im Gegenteil ein neues Bündnis mit dem russischen Atomenergiekonzern Atomenergoprom, das ihm wieder größere Einflußnahme auf Gewinne aus dem Kernenergiegeschäft sichern würde (090104).

Zur Strafe bekam Siemens 648 Millionen Euro weniger für die Anteile an Areva NP

Beides waren unbedachte Entscheidungen, über die man sich nur wundern konnte. Die Trennung von Areva mochte an sich vernünftig sein. Aber nicht unter diesen Umständen: Wie auch jetzt erst nachträglich bekannt wurde, barg der Beteiligungsvertrag mit Areva eine weitere Klausel, die Siemens verpflichtete, acht Jahre nach der Auflösung des Bündnisses auf dem Gebiet der Kernenergie nicht in Wettbewerb mit Areva zu treten. Der Siemens-Chef Peter Löscher scheint mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen zu sein, als er glaubte, diese Verpflichtung einfach ignorieren oder auf die leichte Schulter nehmen zu können. Und die Franzosen wären es auch gewesen, wenn sie nicht versucht hätten, mit diesem Druckmittel die Entschädigung für die zurückgegebenen Siemens-Anteile zu minimieren, deren Buchwert 2,1 Milliarden Euro betrug (100504).

Um aus der Zwickmühle herauszukommen, erstattete der Siemens-Konzern eine Selbstanzeige bei der EU-Kommission, in der er sich und Areva bezichtigte, in dem vor neun Jahren geschlossenen Vertrag über die Zusammenlegung des beiderseitigen Kernenergie-Geschäfts gegen europäisches Wettbewerbsrecht verstoßen zu haben (100605). Im März 2011 bezifferte ein von beiden Seiten eingesetzter Gutachter den Wert der zurückgegebenen Siemens-Anteile mit 1,62 Milliarden Euro (110311). In einem parallel dazu laufenden Schiedsverfahren vor der Internationalen Handelskammer (ICC) wurde dann im Mai entschieden, dass sich diese Summe um den 40-prozentigen Abschlag vermindert, den Siemens und Framatome bei der Zusammenlegung ihres Nuklargeschäfts als maximale Strafe für eine Verletzung der Vertragsbedingungen vereinbart hatten. Das ergab einen Abzug von 648 Millionen Euro, so dass Siemens am Ende weniger als die Hälfte des Buchwerts von 2,1 Milliarden Euro bekam (110510).

Nach der Katastrophe von Fukushima verzichtete Siemens auch auf den neuen Kernenergie-Pakt mit den Russen

Die zweite große Kernkraft-Katastrophe nach Tschernobyl, die sich am 11. März 2011 im japanischen Fukushima ereignete (110301), bewog Siemens ein halbes Jahr später, von dem geplanten neuen Bündnis mit den Russen doch lieber die Finger zu lassen. Im September 2011 erklärte der Konzernchef Löscher, dass man sich nicht mehr direkt am Bau von Kernkraftwerken und deren Finanzierung beteiligen werde. Die vereinbarte Zusammenarbeit mit den Russen werde sich auf die Lieferung konventioneller Kraftwerkstechnik beschränken (110908). Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig, nachdem die schwarz-gelbe Bundesregierung, die vor kurzem noch die Laufzeiten sämtlicher deutschen Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre verlängert hatte (100901), unter dem Eindruck von Fukushima eine atompolitische Wende um 180 Grad vollzog (110402) und die alte Ausstiegs-Regelung mit ein paar kosmetischen Zutaten wieder in Kraft setzte (110601, siehe auch Hintergrund, Februar 2015, und Hintergrund, Dezember 2016).

Einen derartigen politischen Klimawechsel konnte der Siemens-Konzern so wenig ignorieren wie das erste Atomausstiegsgesetz der rot-grünen Bundesregierung, das ihn ein Jahrzehnt zuvor veranlasst hatte, sein gesamtes Nukleargeschäft in den französischen Reaktorbauer Framatome einzubringen. Die gleichzeitig verfolgte Absicht, mit dem schon ein Jahrzehnt früher beschlossenen Gemeinschaftsprojekt EPR eine Renaissance der Kernenergie in Deutschland zu starten, war allerdings mißlungen und hatte lediglich bewirkt, dass er am Ende gänzlich aus dem Nukleargeschäft ausschied. Er wäre deshalb mangels ausreichender Nuklear-Kompetenz nun auch gar nicht mehr in der Lage gewesen, mit den russischen Geschäftspartnern auf derselben technischen Augenhöhe zu verhandeln. "Siemens wird von null anfangen, weil sie weder die Technik noch das Personal haben", konstatierte damals die Areva-Chefin Anne Lauvergeon (siehe Hintergrund, Februar 2009).

EDF konnte jahrelangen Hahnenkampf mit Areva für sich entscheiden

Auf französischer Seite überschätzte man dagegen weiterhin die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten sowohl in technischer als auch in finanzieller Hinsicht. So schrammte die EDF im Herbst 2010 hart an einem weiteren Milliardenloch vorbei, das ihr der beabsichtigte Einstieg beim US-Kernkraftwerksbetreiber Constellation Energy eingebracht hätte (101010). Hinzu kam die Rivalität zwischen den beiden nukleartechnischen Staatsunternehmen, die geradezu groteske Züge annahm, als die EDF der Areva vorwarf, die Versorgung ihrer Kernkraftwerke mit Brennstäben sowie die Entsorgung des Atommülls sabotiert zu haben. Wegen des andauernden Streits ging den beiden Rivalen auch der Auftrag für vier EPR in den Vereinigten Arabischen Emiraten durch die Lappen. Der Ministerpräsident Fillon bestellte deshalb die Chefs beider Unternehmen zu sich und vergatterte sie, ihren Streit um die Vormachtstellung beim Nukleargeschäft wenigstens nicht mehr öffentlich auszutragen (100112). Unter der Oberfläche ging das Gerangel aber noch vier Jahre weiter, bis die Regierung beschloss, die Leitung des Reaktorgeschäfts komplett der EDF zu übertragen (150703). Damit beschränkte sich die Zuständigkeit der Areva – wie zuvor bei der Cogema, aus der sie hervorgegangen war – wieder auf die Gewinnung und Anreicherung von Uran, die Herstellung von Brennelementen oder die Wiederaufarbeitung (siehe Hintergrund, Juli 2015). Die Einzelheiten wurden ein Jahr später geregelt: Die EDF bedang sich dabei aus, nicht mit den Kosten des mißglückten ersten EPR-Projekts in Finnland belastet zu werden. Ausgeschlossen wurden ferner alle finanziellen Belastungen aus den inzwischen festgestellten Mängeln an Reaktordeckeln für die EPR-Projekte Flamanville und Hinkley Point (160714).

In China funktioniert der EPR zwar technisch, bringt der EDF aber nur Verluste ein

Halbwegs zufriedenstellend entwickelten sich lediglich die beiden chinesischen Projekte Taishan 1 und 2, die 2018 bzw. 2019 in Betrieb genommen werden konnten und an denen die EDF im Rahmen eines Gemeinschaftsunternehmens mit 30 Prozent beteiligt ist (071112). Damit gelang es erstmals, den EPR ans Netz zu bringen und seine grundsätzliche technische Funktionsfähigkeit zu demonstrieren. Aber auch hier verzögerte sich die Fertigstellung um fünf Jahre, und die anfängliche Kostenschätzung wurde um 60 Prozent überschritten. Außerdem ist im Bericht des Rechnungshofs von einer "noch unzureichenden Rentabilität" die Rede. Näheres könne dazu nicht mitgeteilt werden, weil das chinesische Geschäftsgeheimnis auch ausländische Geschäftspartner verpflichte. Aber soviel könne doch gesagt werden: "Die Höhe des Tarifs müsste angepasst werden, damit die Rentabilität dieses Projekts mit den getätigten Investitionen sowie den industriellen und finanziellen Risiken vereinbar wird, die das französische Unternehmen EDF eingegangen ist." Das hört sich nicht erfreulich an.

Den "Europäischen Druckwasserreaktor", wie die deutsche Übersetzung des "European Pressurized Reactor" lautete, gibt es übrigens schon lange nicht mehr. Zur besseren Vermarktung außerhalb Europas wurde das englische Akronym EPR von den französischen Verkäufern neu gedeutet und steht seitdem für "Evolutionary Pressurized Reactor".