Juli 2023

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Beim grenzüberschreitenden Stromaustausch mit den elf Netz-Nachbarn rutschte seit Jahresbeginn der Saldo immer tiefer in den roten Bereich der Import-Überschüsse.

Sinkende Preise und weniger Bedarf drücken Stromexport ins Minus

(zu 230701)

Es sieht so aus, als ob der seit zwei Jahrzehnten andauernde Höhenflug der deutschen Exportüberschüsse beim Stromhandel mit dem Ausland bald zu Ende sein könnte. Jedenfalls verschob sich der Saldo beim Stromaustausch mit den elf Netz-Nachbarn im ersten Halbjahr immer stärker in Richtung eines Importüberschusses (siehe Grafik 1). Bis Ende Juli ergab sich beim Stromhandel für das laufende Jahr bereits ein Importüberschuss von 2,5 Terawattstunden (TWh) gegenüber einem Exportüberschuss von 26,5 TWh im gesamten Vorjahr. Möglicherweise wird der Saldo bald auch im Jahresvergleich wieder zwischen beiden Bereichen pendeln, wie das von 1988 bis 2002 der Fall war (siehe Grafik 2). Zuvor hatte die alte Bundesrepublik sogar regelmäßig mehr Strom aus dem Ausland bezogen als in der Gegenrichtung ausgeführt (siehe Grafik 4).

 

Die Talfahrt des Export-Saldos begann bereits 2018

Schon seit 2018 bewegte sich der Stromexport-Saldo kontinuierlich nach unten. Bis 2021 war er von 60,2 auf 17,4 TWh gesunken. Dass er 2022 wieder auf 26,4 TWh anstieg, hatte mit der besonderen Situation zu tun, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine entstand: Zur Abwendung einer Gasversorgungskrise und ihrer Folgen für die Gaskraftwerke beschloss die Bundesregierung unter anderem das "Ersatzkraftwerkegesetz" (220705). Dadurch wurde 27 systemrelevanten Steinkohle- und Ölkraftwerken der Netzreserve (220706) sowie fünf Braunkohle-Blöcken der "Sicherheitsbereitschaft" (221004) die zeitweilige Rückkehr zur kommerziellen Stromproduktion erlaubt. Theoretisch hätten insgesamt 32 Kraftwerke mit einer Leistung von knapp 10 Gigawatt zusätzlich in Betrieb genommen werden können. Soviel zusätzlicher Strom war allerdings weder im Inland noch im Ausland abzusetzen. Außerdem barg ein derart massives Überangebot die "Gefahr" des Preiswettbewerbs. Dadurch wären die traumhaft hohen Großhandelspreise verpfuscht worden, die ein außer Rand und Band geratener Börsenmechanismus allen Stromerzeugern spendierte, die für ihr Geschäft kein Gas benötigten (siehe HIntergrund, Januar 2023).

Kommerziell verfügbare Kraftwerkskapazitäten wurden um 4,7 Gigawatt erweitert

In der Praxis haben deshalb lediglich 15 Steinkohleblöcke und ein Ölkraftwerk mit einer Leistung von insgesamt 4,7 Gigawatt von dem nachträglich verlängerten Angebot Gebrauch gemacht, bis spatestens 31. März 2024 wieder an den Markt zurückzukehren (221004). Dahinter stand natürlich die Erwartung, dass die unbegrenzte kommerzielle Stromproduktion einträglicher sein würde als der vom Netzbetreiber bezahlte Status eines Reservekraftwerks, das nur zur Behebung netztechnischer Probleme aktiviert werden darf. Zudem war die Steinkohle-Verstromung ausdrücklich von der Übergewinn-Abschöpfung ausgenommen worden, die ab 1. Dezember in Kraft trat (221201).

Hohe Übergewinne lockten Ende 2022 sogar die GKM-Aktionäre aus der Reserve...

Zumindest vorerst erfüllten sich diese Erwartungen auch. Als im Dezember 2022 der durchschnittliche Großhandelspreis zwischen 252 Euro (base) und 320 Euro (peak) pro Megawattstunde erreichte, gab selbst das Großkraftwerk Mannheim (GKM) seine anfängliche Zurückhaltung auf und holte den Steinkohle-Block 7 aus der Reserve, um ab 1. Januar vom weiteren Geldsegen profitieren zu können (221201). Das GKM gehört den drei Energiekonzernen RWE, EnBW und MVV, die sicher über gute Marktkenntnisse verfügen (150514). Es sah also ganz danach aus, als würde das Hochpreisniveau noch einige Zeit andauern. Zu dieser Fortschreibung des bisherigen Szenarios gehörte die Erwartung, dass sich die vom "Ersatzkraftwerkegesetz" im zweiten Halbjahr 2022 geschaffenen Überkapazitäten weiterhin durch Stromexport gewinnbringend absetzen lassen würden. Insofern wäre für das Gesamtjahr 2023 anstelle einer Fortsetzung der Abschwächung sogar ein weiterer Anstieg des Export-Saldos zu erwarten gewesen.

...bevor sie sich im April doch wieder für den Netzreservertrag entschieden

Aber es kam anders: Schon schon im Januar 2023 gingen die Großhandelspreise deutlich zurück. Der "Phelix base" schrumpfte von 252 auf 118 Euro/MWh, und im April lag er nur noch bei 100 Euro. Das war noch immer weitaus mehr als der langjährige Durchschnittspreis, der bis Herbst 2021 bei 38 Euro/MWh bzw. 3,8 Cent/kWh gelegen hatte. Aus Sicht der GKM-Aktionäre lohnte sich der kommerzielle Betrieb von Block 7 dennoch nicht mehr, zumal sie ja selber zahlreiche andere Kraftwerke betreiben und ab einem bestimmten Punkt des Preisverfalls sich selber nur Konkurrenz machen würden. Mitte April beschlossen sie deshalb, den eben erst reaktivierten Steinkohle-Block ab 4. Juni wieder aus dem Markt zu nehmen. Stattdessen gilt nun wieder der mit dem Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW abgeschlossene Netzreservevertrag, der ihnen mindestens bis Ende März 2025 sichere Einkünfte garantiert (200913).

Ab Mai floss wieder mehr Strom von Frankreich nach Deutschland als umgekehrt

Neben dem Rückgang der Großhandelspreise beschleunigten ein vermehrtes Angebot und ein um etwa sechs Prozent geringerer Strombedarf auf europäischer Ebene die Verwandlung des deutschen Stromexportüberschusses in einen Importüberschuss, der sich seit Beginn dieses Jahres immer deutlicher abzeichnete. Ein wichtiger Faktor war dabei, dass Frankreich die Probleme vorerst lösen konnte, die ihm seine maroden Kernkraftwerke bereiten. Im Vorjahr war deshalb fast die Hälfte der Reaktoren abgeschaltet (220812). Anstelle des üblichen Exportüberschüsses, der 2021 noch 44,3 TWh betrug, verzeichnete das Nachbarland einen Importüberschuss von 16,4 TWh, wobei das Defizit größtenteils mit Strom aus Deutschland gedeckt wurde.

Auch in den ersten vier Monaten dieses Jahres floss noch deutlich mehr Strom von Deutschland nach Frankreich als in der Gegenrichtung. Ab Mai war es dann aber wieder umgekehrt, wodurch der Saldo des deutschen Stromaustauschs mit zehn der elf Nachbarn endgültig in den roten Bereich des Importüberschusses rutschte. Einzige Ausnahme blieb das kleine Luxemburg (siehe Grafik 1).

Aber es war keineswegs nur der billigere Strom aus Frankreich, der den Stromexport schwieriger machte. Mindestens ebenso große Strommengen kamen aus Norwegen und Dänemark nach Deutschland und drückten auf den Export, weil sie aus den erneuerbaren Energien Wasserkraft und Wind stammen, die noch preisgünstiger sein können als der staatliche subventionierte Atomstrom aus Frankreich.

KKW-Abschaltung bewirkte nur kurze Verschiebung der Wende vom Export- zum Importüberschuss

Da der Wendepunkt just Mitte April erreicht wurde, konnte bei einer oberflächlichen Sichtweise der Eindruck entstehen, als ob diese Verschiebung vom Export- zum Importüberschuss auf die Stilllegung der drei letzten Kernkraftwerke zurückzuführen sei oder sich sogar exakt auf den 15. April datieren lasse, an dem die drei letzten deutschen Reaktoren abgeschaltet wurden (230404). Beide Vermutungen sind mehr oder weniger falsch, wie die nachfolgende Grafik 3 zeigt:

 

Die untere Kurve auf dieser Grafik macht deutlich, dass sich durch die Abschaltung der drei Reaktoren am 15. April zunächst nicht viel am üblichen Auf und Ab des Importsaldos änderte. Und für die Deckung des Bedarfs (obere Kurve) war der Wegfall der KKW-Leistung sowieso bedeutungslos, da die Netzlast nach dem 15. April geringer als vorher war. Ab Ende April überwogen dann aber signifikant die Importe gegenüber den Exporten, während es vorher umgekehrt war: Im März betrug der Exportüberschuss noch 2067 GWh, nachdem er seit Januar um 1890 GWh geschrumpft war. Im April ergab sich dagegen ein Importüberschuss von 425 GWh, was einer Veränderung des Saldos um 2492 GWh entspricht. Im Mai wuchs dieser Importüberschuss auf 3526 GWh und im Juni auf 4037 GWh. In der jeweiligen Differenz zum Vormonat lassen sich die Strommengen vermuten, die von den drei Kernkraftwerken bis zu ihrer Abschaltung monatlich produziert wurden. Im vergangenen Jahr waren das 32.712 GWh, was monatlich 2726 GWh entspricht.

Bei einer Abschätzung der Auswirkungen, welche die KKW-Abschaltung auf den Export haben konnte, wäre somit für die zweite Aprilhälfte eine Minderung um 1363 GWh zu berücksichtigen. Es bleiben dann aber rund 1120 GWh übrig. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre also der Exportüberschuss um diese Strommenge ohnehin gesunken. Auch der im Mai erreichte Importüberschuss von 3526 GWh sinkt nur auf 800 GWh, wenn man die 2726 GWh abzieht. Und von den 4037 GWh im Juni bleiben sogar 1311 GWh übrig. Anders gesagt: Auch bei einem Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke wäre der im März erzielte Exportüberschuss von 2067 GWh durch andere Faktoren, die einer Strommenge von 3163 GWh entsprechen, bis Juni aufgezehrt worden und zu einem Importüberschuss von 1100 GWh geworden.

Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf CSU-Anfrage geriet zum Nachhilfeunterricht

Falls sich auch für das Gesamtjahr 2023 zum ersten Mal seit 2001 ein Importüberschuss beim Stromhandel ergeben sollte – und aktuell sieht es ganz danach aus – , lässt sich das deshalb nicht auf die Abschaltung der drei letzten Kernkraftwerke zurückführen. Dieser Schlußakt des Atomausstiegs war nur ein zusätzlicher Impetus, der die Verwandlung des Exportüberschusses in einen Importüberschuss zwar um ungefähr fünf Wochen beschleunigte, im übrigen aber peripherer und nicht kausaler Natur war. Wer das Gegenteil behauptet, hat entweder keine große Ahnung vom Funktionieren des Europäischen Strombinnenmarkts oder will politischen Honig aus dem Verschwinden des Exportüberschusses saugen, der zwar die Gewinne von in Deutschland ansässigen Kraftwerksbetreibern schmälern mag, ansonsten aber weder die Sicherheit der Stromversorgung gefährdet noch sonst irgendein Übel in sich birgt.

Zu diesen Honigsaugern gehört der CSU -Bundestagsabgeordnete Stefan Müller, der auch Parlamentarischer Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe ist und Anfang Juni folgende Anfrage an die Bundesregierung richtetet: "An wie vielen Tagen im Jahr 2023 wurde Strom aus dem Ausland nach Deutschland importiert (bitte einmal den Zeitraum 1. Januar bis 16. Februar 2023 bis heute getrennt angeben), und wie hoch war die importierte Strommenge insgesamt in diesem Zeitraum?"

Der Unionspolitiker wollte offenbar mit regierungsamtlichen Zahlen den genauso bösen wie haltlosen Vorwurf untermauern, dass die Ampelkoalition mit der nach vielem Hin und Her doch noch vollzogenen Abschaltung der drei letzten Kernkraftwerke (230404) die deutsche Stromversorgung in eine unverantwortliche Abhängigkeit vom Ausland gestürzt habe. Zugleich ließ die Formulierung seiner Anfrage erkennen, dass er nicht sonderlich viel von der Materie verstand. Das Bundeswirtschaftsministerium beantwortete die Anfrage am 19. Juni dennoch penibel und ließ wissen, dass bis einschließlich 12. Juni an 70 von 163 Tagen per Saldo Strom importiert worden sei. Im selben Zeitraum habe sich das Gesamtvolumen der Exporte auf 12.044 GWh und das der Importe auf 6.657 GWh belaufen. In den 47 Tagen bis 16. Februar seien 564 GWh importiert und 5.937 GWh exportiert worden.

Den größeren Teil der Antwort bildete aber eine Art Nachhilfeunterricht. Zum einen wurde der Volksvertreter darüber aufgeklärt, dass man nicht unbedingt die Bundesregierung bemühen muss, um derartige stromwirtschaftliche Daten zu bekommen: "Der Saldo grenzüberschreitender Stromflüsse zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern sowie viele weitere Auswertungen rund um den ,grenzüberschreitenden Stromhandel werden jährlich im Monitoringbericht der Bundesnetzagentur und unterjährig auf www.smard.de veröffentlicht."

"Über die Handelsrichtung zwischen Ländern entscheiden allein die relativen Kostenunterschiede"

Die zweite Lektion des ministeriellen Nachhilfeunterrichts bestand in einer grundsätzlichen Aufklärung über die Funktionsweise und Bedeutung des europäischen Binnenmarkts für Strom, die hier im Wortlaut wiedergegeben wird, da offenbar nicht nur in Bayern noch große Unklarheiten darüber bestehen, wie Stromexport und -import in Europa miteinander zusammenhängen:

"Deutschland ist Teil des europäischen Strombinnenmarktes, in dem Strom über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg gehandelt wird. Der Strombinnenmarkt wurde geschaffen, um den Wettbewerb zu fördern, die Versorgungssicherheit zu erhöhen und die Kosten für die Verbraucher zu senken. Stromimporte und -exporte sind die natürliche Folge dieses grenzüberschreitenden Stromhandels.

Ist Strom in Nachbarländern günstiger einzukaufen als durch heimische Kraftwerke zu erzeugen, wird er importiert. Ist heimisch erzeugter Strom günstiger als in den Nachbarländern, wird er exportiert. Die im Rahmen der Marktkopplung ermittelten europäischen Großhandelspreise resultieren aus den zum jeweiligen Zeitpunkt unterschiedlichen relativen Erzeugungskosten. Sie enthalten unter anderem die Kosten für Brennstoffe und CO2-Zertifikate. Die an den Ländergrenzen zur Verfügung stehenden Übertragungskapazitäten bestimmen darüber, inwieweit die Strompreise grenzüberschreitend konvergieren. Dieses System der Marktkopplung sorgt dafür, dass die Preise für Stromkunden minimiert werden.

Über die Handelsrichtung zwischen Ländern entscheiden allein die relativen Kostenunterschiede zwischen den in den nationalen Gebotsreihungen zuletzt noch bezuschlagten Erzeugungstechnologien (die jeweiligen ' Grenzkraftwerke'). Deshalb erlaubt eine Betrachtung von Exporten und Importen und deren Entwicklung über die Zeit alleine keine Aussagen über die physikalische Knappheit von Strom. Der Außenhandelssaldo spiegelt mithin lediglich den Sachverhalt wider, dass Strom in zwei benachbarten Ländern im jeweiligen Zeitpunkt unterschiedlich günstig erzeugt wird."

"Die Ampel hat die Energiesouveränität Deutschlands ins Wanken gebracht"

Der Unionspolitiker erwies sich jedoch als resistent gegenüber solchen Aufklärungsbemühungen, zumal er mit den von ihm erfragten Auskünften wenig anfangen konnte: Sie belegten lediglich, dass vor wie nach der Abschaltung (die übrigens nicht am 16. April, sondern am Vortag erfolgte) ein Exportüberschuss bestand, der sich pro Tag von 114 GWh auf 33 GWh verringerte, wenn man den Zeitraum vom Jahresbeginn bis zum 12. Juni an der Schnittstelle 16. April in zwei ungleiche Hälften aufteilte. Hinter diesem Befund konnte sich ebenso ein kontinuierlicher Rückgang wie ein abruptes Absinken des Exportüberschusses nach dem Abschalttermin verbergen.

Kurzerhand ließ der Unionspolitiker seinem Bauchgefühl, das er nicht mit Daten belegen konnte, freien Lauf und behauptete Anfang Juli gegenüber der "Bild-Zeitung": "Die Ampel hat mit dem Abschalten der nationalen Kernkraftwerke die Energiesouveränität Deutschlands ins Wanken gebracht. Statt ausreichend Strom in Deutschland zu produzieren, sind wir jetzt auf den Atom-Strom aus Frankreich angewiesen. So gefährdet Habeck den Industriestandort Deutschland."

"Bild"-Quatsch mit akademischer Soße

Selbst "Bild" veröffentlicht nicht unbesehen jeden Stuss. Wie man hört, hat der Redakteur sogar mit einem Energiexperten des Fraunhofer-Instituts gesprochen, der ihm dringend abriet, die Sichtweise des CSU-Politikers zu kolportieren, weil sie den realen Sachverhalt verfälsche. Trotzdem wurde der Quatsch gedruckt. Und es fand sich sogar noch ein anderer Energieexperte, der ihn zu bestätigen schien. Dies war der Physiker André Thess von der Universität Stuttgart, der sich von "Bild" folgendermaßen zitieren ließ: "Deutschland ist ausweislich öffentlich zugänglicher Stromdaten von einem Stromexporteur zu einem Stromimporteur geworden. Dieser Effekt ist mit hoher Wahrscheinlichkeit mit dem Atomausstieg verknüpft."

Der als Experte bemühte André Thess sah also "mit hoher Wahrscheinlichkeit" eine irgendwie geartete Verknüpfung zwischen dem "Atomausstieg" und dem Saldo des Stromaustauschs. Da in der Energiewirtschaft alles mögliche auf die eine oder andere Weise miteinander verknüpft ist, war das nicht mehr als heiße Luft. Im aktuellen Kontext wird der typische "Bild"-Leser die mit professoralem Gestus vorgetragene Binse jedoch als Bestätigung verstanden haben, dass die Abschaltung der drei letzten Reaktoren tatsächlich eine Büchse der Pandora geöffnet habe, wodurch Deutschland in eine gefährliche Importabhängigkeit gerate, seine "Energiesouveränität" verliere und Habeck den Industriestandort Deutschland gefährde.

Anstieg der Exportüberschüsse erfolgte parallel zum Atomausstieg

Es fällt auf, dass Thess nicht gegen die Abschaltung der drei letzten Reaktoren polemisierte, wie es der CSU-Politiker tat, dem er sekundierte, sondern allgemein vom "Atomausstieg" sprach, der wahrscheinlich schuld am Importüberschuss sei. Diese Sichtweise passt zu einem bekennenden Kernkraft-Fan, der MItglied im Verein "Nuklearia" ist. Sie wirkt aber stark erklärungsbedürftig, wenn man sich die Grafik 2 anschaut: Daraus geht eindeutig hervor, dass der 2003 beginnende und 22 Jahre dauernde Höhenflug der Stromexporte sich parallel zu dem ebenso lange dauernden Atomausstieg vollzog, der im Jahr 2000 vereinbart (000601) und zwei Jahre später gesetzlich beschlossen wurde (020404). So richtig in Fahrt kamen die Exportüberschüsse sogar erst nach der Kastastrophe von Fukushima, als die schwarz-gelbe Koalition ihre atompolitische Volte vollzog und anstelle einer bereits beschlossenen Laufzeitenverlängerung die seit neun Jahren geltenden Reststrommengen bestätigte sowie acht Kernkraftwerke sofort stilllegte (110501). Nur zwischendurch gab es kurz einen Rückgang des Exportüberschusses auf 6,3 TWh, weil für die acht Reaktoren, deren Stilllegung die schwarz-gelbe Koalition unnötigerweise für nötig hielt, nicht so schnell Ersatz beschafft werden konnte. Im Jahr 2017 wurde dann mit 60,2 TWh der absolute Gipfel aller Exportüberschüsse erreicht, obwohl von den ursprünglich 19 Kernkraftwerken nur noch acht am Netz waren.

Diese positive Korrelation zwischen Atomausstieg und Exportüberschuss nimmt auch deshalb wunder, weil die Stromexporte immer zu einem großen Teil aus Kernkraft stammten und die Anzahl der am Netz befindlichen KKW kleiner wurde. Aber das ließe sich mit der Ersetzung von Atom- durch Kohlestrom erklären. Die eigentliche Erklärung für den andauernden Export-Boom ist natürlich nicht im Atomausstieg zu suchen, sondern im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das zwei Jahre früher vom Bundestag beschlossen wurde (000201). Im selben Zeitraum von 2003 bis 2017, in dem die Stromexportüberschüsse von 4,1 auf 60,2 TWh anwuchsen, stieg der Anteil der Erneuerbaren am Bruttostromverbrauch von 7,7 auf 36 Prozent (200707). Da der Erneuerbaren-Strom gesetzlichen Vorrang bei der Einspeisung ins Netz genießt, wurde es für die Kohle- und Kernkraftwerksbetreiber entsprechend schwieriger, ihre Erzeungskapazitäten im Inland abzusetzen. Dies war die treibende Kraft, die den deutschen Stromexport zumindest solange beflügelte, wie die Marktpreise deutlich über den Erzeungskosten lagen und entsprechende Gewinne ermöglichten.

Von 1950 bis 1987 hatte die damalige Bundesrepublik ununterbrochen einen Importüberschuss beim Stromhandel. Die hier für 1970 sowie 1980 bis 1983 angegebenen Importüberschüsse wurden seitdem nie wieder erreicht.

Eine von Importen bedrohte "Energiesouveränität" hat es noch nie gegeben

Grundsätzlich spielt es für die Sicherheit der Stromversorgung überhaupt keine Rolle, wie groß die Exporte und die damit erzielten Erlöse der in Deutschland angesiedelten Stromerzeuger sind. Eine hundertprozentige "Energiesouveränität" der Bundesrepublik, über deren angeblichen Verlust der CSU-Politiker Stefan Müller sich ereifert, hat es selbst beim Strom nie gegeben. Im Gegenteil: Wie die Grafik 4 (oben) zeigt, hatte die Bundesrepubik gerade in der Ära der integrierten Stromversorgung, die noch am ehesten die politischen und materiellen Voraussetzungen für eine autarke, vom Ausland völlig unabhängige Stromversorgung bot, von 1950 bis 1987 ununterbrochen einen erheblichen Importüberschuss. Vor allem der EnBW-Vorläufer Badenwerk holte sich viel französischen Strom in sein Netz und beteiligte sich sogar gegen entsprechender Strombezugsrechte am Bau der beiden französischen Kernkraftwerke Cattenom und Fessenheim (170408).

In dieser Ära der integrierten Stromversorgung, die ab 1998 mit der Neufassung des Energiewirtschaftsgestzes zu Ende ging (980401), beherrschten acht bis neun "Verbundunternehmen" den deutschen Strommarkt, die in aller Regel der öffentlichen Hand gehörten. In ihren jeweiligen Bezirken, die aus historischen Gründen häufig mit Landesgrenzen übereinstimmten, waren sie sowohl für die Großstromerzeugung als auch für den Betrieb des Übertragungsnetzes zuständig. Zum Teil betrieben sie auch die unteren Spannungsebenen einschließlich des Endkundengeschäfts. Meistens überließén sie das aber Stadtwerken und Regionalversorgern (wobei letztere meistens wieder Verbundunternehmen gehörten). Alle Versorger verfügten in ihren jeweiligen Gebieten über ein Monopol, weshalb sie ihre Tarife amtlich genehmigen lassen mussten. Einen Stromhandel im heutigen Sinn gab es nicht. Soweit die Verbundunternehmen untereinander Strom austauschten, erfolgte die Verrechnung meistens mit Gegenlieferungen. Wenn die geschlossenen Versorgungsgebiete der Verbundunternehmen an Frankreich, die Schweiz oder Österreich grenzten, gab es mit den dortigen Stromversorgern ebenfalls einen Stromaustausch über nationale Grenzen und Währungsgebiete hinweg. In solchen Fällen wurde der Stromaustausch als Import oder Export erfasst. Die VDEW-Angaben in Grafik 4 beruhen auf einer Auswertung entsprechender Stromhandelsverträge.


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