Juni 2024

240607

ENERGIE-CHRONIK


Union beantragt Untersuchungsausschuss zur Ablehnung der Laufzeitenverlängerung für die drei letzten KKW

Die CDU/CSU will weiterhin den Eindruck erwecken, als ob die Ministerien für Wirtschaft und Umweltschutz sich pflichtwidrig verhalten hätten, als sie am 8. März 2022 eine Verlängerung der gesetzlich vorgesehenen Laufzeiten für die die drei letzten Reaktoren Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 ablehnten (220312). Den Auftakt zu dieser Kampagne bildete ein Artikel unter der Überschrift "Habecks Geheimakten – Wie die Grünen beim Atomausstieg täuschten", den das rechtsgerichtete Magazin "Cicero" veröffentlichte und der auch von der "Bild"-Zeitung kolportiert wurde. Die Union griff diesen fadenscheinigen Artikel dann auf, indem sie am 26. April eine kurzfristig anberaumte öffentliche Sitzung des Ausschusses für Klima und Energie im Bundestag durchsetzte (240408). Inzwischen hat sie sogar die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt. Damit zieht sie alle Register, die der Opposition an der parlamentarischen Orgel zur Verfügung stehen, was das so erzeugte Getöse aber nicht wohlklingender macht. Der Antrag wurde am 14. Juni in erster Lesung vom Bundestag behandelt und an den federführenden Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur weiteren Beratung überwiesen.

Der Hauptzweck dürfte sein, eine Neubelebung der Kernenergie als sinnvoll erscheinen zu lassen

Nach der Geschäftsordnung des Bundestags ist die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses als Minderheitenrecht ausgestaltet und bereits auf Antrag von mindestens einem Viertel der Abgeordneten möglich. Aktuell müssen das 184 Abgeordnete sein. Die CDU/CSU kann deshalb mit ihren 185 Abgeordneten die Einsetzung eines solchen Sonderausschusses im Alleingang durchsetzen. Im weiteren Verlauf beschließt der Untersuchungsausschuss aber nach § 9 der Geschäftsordnung mit der Mehrheit der von seinen Mitgliedern abgegebenen Stimmen. Bei Stimmengleichheit ist der Antrag abgelehnt. Gemäß § 12 ist die Besetzung der Ausschüsse "im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen". Dem vorliegenden Antrag zufolge hätte der Sonderausschuss 14 ordentliche Mitglieder, und zwar jeweils vier von CDU/CSU und SPD, jeweils zwei von Grünen und der FDP sowie je einen Abgeordneten von AfD und Linke. Bei dieser Konstellation dürfte es der Union nicht möglich sein, ihre verquere Sichtweise der damaligen Vorgänge mehrheitsfähig zu machen. Vermutlich geht es CDU und CSU aber sowieso nur darum, den Eindruck zu erwecken, als ob eine Neubewertung und Neubelebung der Kernenergie in Deutschland überhaupt sinnvoll wäre, nachdem sie sich den Ausstieg aus dem Atomausstieg neuerdings sogar in ihre jeweiligen Parteiprogramme geschrieben haben (240105).

Die Union will skandalisieren, dass bei der Abwägung aller Gesichtspunkte die Argumente für eine Laufzeitenverlängerung ein zu geringes Gewicht hatten

Der mehr als dürftige Kern des Vorwurfs besteht darin, dass es auch Argumente für eine Laufzeitenverlängerung der drei letzten Kernkraftwerke gegeben habe, als Robert Habeck und Steffi Lemke im Frühjahr 2022 die zuständigen Fachleute ihrer Ministerien damit beauftragten, das Für und Wider einer solchen Maßnahme zu beurteilen. Aktueller Anlass für den Prüfauftrag war der russische Überfall auf die Ukraine, der am 24. Februar begonnen hatte und vorhersehbar schwerwiegende Folgen für die Energiewirtschaft haben musste (220201). Am 8. März legten die beiden Minister das Ergebnis dieser Überprüfung vor (220312). Nach Abwägung aller vorgetragenen Gesichtspunkte gelangten sie zu dem Schluss, dass eine Verlängerung der Atomstromerzeugung kein sinnvoller Beitrag zur Lösung der sich abzeichnenden Energieprobleme wäre (siehe Wortlaut des Prüfvermerks).

Die vom Bundeskanzler verfügte Verlängerung um 15 Wochen war ein Zugeständnis an die FDP, aber keineswegs notwendig

Die Betreiber der schon seit längerem laufenden Kampagne zur Neubelebung der Kernenergie in Deutschland (211006) ließen indessen nicht locker. Für sie war der russische Überfall auf die Ukraine eine willkommene Chance, um die dadurch ausgelösten Ängste für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Politische Unterstützung bekamen sie dabei nicht nur von Union und AfD, sondern auch von der mitregierenden FDP. Zur Erhaltung des Koalitionsfriedens (den die FDP dann freilich weiterhin störte) machte der Bundeskanzler Scholz deshalb von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch und verfügte am 19. Oktober 2022, dass die drei letzten Reaktoren bis zum 15. April 2023 betrieben werden durften, anstatt zum Jahresende abgeschaltet zu werden (221002). Damit konnten sie 15 Wochen länger betrieben werden, als die seinerzeitige Bundesregierung aus Union und FDP nach der Katastrophe von Fukushima im Atomgesetz festgelegt hatte. Nötig gewesen wäre das aber keineswegs.

Eigentlich hätte mit diesem Zugeständnis das vermeintliche Problem erledigt sein müssen. Es ging den Betreibern der Kampagne indessen gerade nicht um die Lösung eines realen Energieproblems, sondern um Stimmungsmache für eine Neubelebung der Kernenergie, zu der ein möglichst langer Weiterbetrieb der letzten Reaktoren nur den Auftakt bilden sollte. Deshalb machten sie nun weiter und erzwingen sogar einen Untersuchungsausschuss, um einen ganz normalen Konsultations- und Entscheidungsprozeß zu skandalisieren.

Als Union und FDP die Rückgängigmachung des Atomausstiegs beschlossen, fragten sie die Sicherheitsexperten erst gar nicht

In diesem Zusammenhang muss deshalb daran erinnert werden, dass Union und FDP kurz vor der Katastrophe von Fukushima (110301) eine enorme Laufzeitenverlängerung für alle deutschen Kernkraftwerke beschlossen, die tatsächlich ein Skandal war. Diese Verlängerung trat Anfang 2011 in Kraft und erhöhte die Reststrommengen der 17 Reaktoren so massiv, dass der seit dem Jahr 2000 erreichte Atomausstieg vollständig rückgängig gemacht worden wäre (die Reststrommengen waren 2011 schon zu zwei Dritteln abgearbeitet). Die entsprechenden Änderungen des Atomgesetzes kamen aufgrund von Verhandlungen mit den KKW-Betreibern zustande, die so lang wie möglich geheim gehalten wurden (100901). Die für die Reaktorsicherheit zuständigen Fachleute im CDU-geführten Umweltministerium wurden dagegen bewusst übergangen, um die Absprachen mit den KKW-Betreibern nicht zu gefährden. Als sie sich dann ungefragt zu Wort meldeten und gravierende Sicherheitsbedenken vortrugen, wurden ihre Warnungen einfach ignoriert (240503).

Kurz danach kam es zu der KKW-Katastrophe in Japan, weshalb Union und FDP sich genötigt sahen, diese Laufzeitenverlängerung wieder abzuschaffen (110601). Es sollte aber nicht so aussehen, als ob sie reumütig zur alten Fassung des Atomgesetzes zurückkehren würden. Deshalb dekorierten sie die erneute Novellierung mit zwei scheinradikalen Zutaten, die den Eindruck erweckten, als ob nun ausgerechnet sie den Atomausstieg besonders energisch vorantreiben würden. Neben der sofortigen Stilllegung der sieben ältesten Reaktoren gehörte dazu die Einführung von Schlussterminen für die verbleibenden zehn Reaktoren, zu denen diese spätestens abgeschaltet werden mussten. In Wirklichkeit war beides eine populistische Augenwischerei, die den Atomausstieg sogar verlangsamte statt beschleunigte und den KKW-Betreibern am Ende noch eine Milliarden-Abfindung bescherte (siehe Hintergrund, März 2021).

 

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